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Volksliedes. Ja, Schewtschenkos Poesie ist echte Volkspoesie. Und das ist das Große und Seltene an Schewtschenko. Seine Dumki sind nicht Gedichte, welche der Dichter in kluger Erkenntnis des Volkes dessen Verständnis angepaßt hat, es sind Lieder, die, aus dem Herzen des Volkes geflossen, mit urkräftiger Gewalt wieder zum Herzen des Volkes gehen. „Die Poesie Schewtschenkos“, so sagt sein Freund und Gefährte Kostomarow, „ist die Poesie des ganzen Volkes, doch nicht nur die, welche schon das Volk selbst in seinen namenlosen Schöpfungen, den Volksliedern und Dumen gesungen hat, es ist die Poesie, welche das Volk selbst würde anstimmen müssen, wenn es mit selbständiger Schöpferkraft ununterbrochen nach seinen ersten Liedern fortfahren wollte zu singen; oder vielmehr, es war die Poesie, welche das Volk wirklich angestimmt hat durch den Mund seines Auserwählten, seiner wahrhaft leitenden Persönlichkeit.“ Wohl sang auch Schewtschenko wie die anderen ukrainischen Romantiker von dem Ruhme der Vorzeit, den Kämpfen der freien Kosaken, den blutigen Bauernaufständen der Haidamaken, wohl träumte auch er über den Grabhügeln der Ahnen und lauschte dem Winde, der bald sanft, bald in wildem Brausen sein düsteres Lied durch die Steppe singt, doch über dem Versenken in die Vergangenheit verlor er nicht den Blick für das Leben der Gegenwart, und das traurige Geschick der Volksgenossen um ihn wirkte nicht minder auf seinen

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Olga Kobylanska: Kleinrussische Novellen. J. C. C. Bruns’ Verlag, Minden i. Westf. [1901], Seite XI. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:KobyljanskaKleinrussischeNovellen.pdf/19&oldid=- (Version vom 13.9.2022)