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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant)

Erst am Abend des nächsten Tages war den beiden Menschen in der Dämmerstunde ein so langes Alleinsein gegönnt, daß Robert seinen schiedsrichterlichen Spruch abgeben konnte, Er wartete die Frage des sichtlich erregten Mädchens nicht ab, sondern begann von freien Stücken:

„Ich habe eine ganze Nacht lang nachgedacht, Felice – jetzt bin ich mir klar. Sie dürfen den Menschen nicht heirathen, um keinen Preis. Sie gehören nicht zu den alltäglichen Naturen, von denen zwölf auf’s Dutzend gehen – es wird Ihnen nicht genügen, geliebt zu werden und bei Ihnen wird sich die Liebe nicht in der Ehe finden. Sie haben weniger Aussicht, glücklich zu werden, als hundert andere Mädchen, aber wenn Sie glücklich werden, wenn Sie den Mann finden, der Sie liebt und den Sie lieben, dem Sie sich schenken müssen, so wird Ihr Glück tausendmal schöner, süßer und reiner sein, als das jener seichten und stumpfen Seelen, die sich mit jedem Verhältniß abzufinden wissen. Für Sie liegt der Fall sehr einfach: Wollen Sie sich selber treu bleiben oder wollen Sie auf die Stufe der Mädchen sinken, die sich für Geld verkaufen? Ob das für eine Stunde oder für ein ganzes Menschenleben geschieht, macht doch wahrlich keinen Unterschied, und der Segensspruch des Priesters, Chorgesang und Orgelspiel können an der Thatsache nichts ändern, daß Sie sich preisgegeben haben. In den Augen der Welt sind Sie natürlich eine achtbare Frau, vor dem Richterstuhl ihres eigenen Gewissens aber stehen Sie tiefer als das arme „gefallene“ Mädchen, das sich aus reiner, schrankenloser, unbesieglicher Liebe dem Geliebten ergeben hat. Wie ich Sie kenne, würde Ihnen das früh genug zum Bewußtsein kommen, und Sie sind eine zu ehrliche Natur, sich über den Sachverhalt mit Trugschlüssen hinwegzutäuschen und ihm ein Mäntelchen umzuhängen. Sie würden den Riß, der durch Ihr tiefstes Wesen ginge, nicht zu verkleistern vermögen und sich grenzenlos elend, entwürdigt und gesunken vorkommen, und davor möchte ich Sie bewahren.“

Das Mädchen hatte ihn mit keinem Wort unterbrochen, aber ihre Augen hatten unverwandt an seinen Lippen gehangen und als er geendet, sagte sie ernst und fest: „Ungefähr so habe ich mir’s auch gedacht; nun bin ich mir klar und gegen meine Ueberzeugung und Ihr Wort soll die ganze Welt nichts vermögen. Verlassen Sie sich darauf – ich sterbe eher, als daß ich mich in eine Ehe ohne Liebe hineinzwingen lasse.“ Es war, als schwebe noch ein Wort auf ihren Lippen, aber sie schluckte es hinab, drückte ihm herzlich die Hand, riß sich mit einer gewissen Gewaltsamkeit los und verließ hastig das Zimmer, als wolle sie sich die Möglichkeit nehmen, Geständnisse zu machen, die sie vielleicht später gereut hätten, und Robert ließ sie, wenn auch nicht ohne innern Kampf, gehen. Aber der Sieg über sich selbst war ihm so schwer geworden, daß ihm fortan der Boden unter den Füßen

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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant). Druck und Verlag J.H.W. Dietz, Hamburg 1887, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Illustrirtes_Unterhaltungsblatt_25_12_1887_Seite_2.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)