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Dorthin hat es dich, Seele, gezogen,
Nacht war’s und Not, wonach dich gelüstet!
Dafür an Lichtbrüsten der Gestirne gesogen,
Daß jetzt der Abgrund den Pfad dir rüstet!

Hör das Fluchen, das Donnern, Winseln –
Kreuz und quer zieht es durch Licht und Schall,
Anrennt und durchschüttert es Festland und Inseln,
Himmel und Meer, das unbegriffene All.

Heut ist der Tag nicht, sich Eins zu wissen
Mit diesem lebenden Menschengeschlecht.
Sie werden dich, du wirst sie nicht vermissen.
Fort aus ihrem Schlecht und Recht!

Lüge die Zukunft und Wüste das Vergangene –
Horch in den Tag und begreife es nur.
Der Herrscher, der Sklave, der Tote, der Gefangene
Weist deinem Ziel die einzige Spur.

II

Hätte dich die Not gezwungen,
Wärst du mit den Tötern gangen.
Wär dir mancher Tod gelungen,
Bliebst am Tod wohl selber hangen.
Aber weil das Muß vermieden,
Mußt du’s selbst dir auferlegen,
Mußt zum bitteren Hienieden
Hämmern dich mit Eisenschlägen.
Viel gebieten, nichts verzeihen,
Bis du Mensch bist ganz geläutert,
Sinn und Kraft dein Wesen weihen,
Daran Zwist und Irrwahn scheitert.
Du und Welt und Gott seid Eines
Wenn dein Herz zu lieben versteht,
Geh in dich und über ein Kleines
Löst aus der Qual sich ein Kindergebet.
Dann wirst du zum Geschenk bekommen
Dich zurück, Gott und die Welt dazu,
Lohn der Guten, Armen, Frommen,
Schlaf und Vergessen, bescheidene Ruh.
Sieh, dein Teil ist unverloren,
Wenn du so zu fühlen weißt.
Wer vom Menschen ist geboren,
Wird von heiliger Huld gespeist.

Empfohlene Zitierweise:
Arthur Holitscher: Scham und Läuterung. In: Die Aktion, Berlin 1916, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Holistcher_(1916)_Scham_und_L%C3%A4uterung_(Die_Aktion,_8_Juli_1916).pdf/2&oldid=- (Version vom 23.1.2024)