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sie ihresgleichen, nimmt ihnen ihre sonderliche Würde, phantasiert, wo nichts geschrieben steht und irrlichteliert, wo geschrieben steht, weiß das Vorleben des Heiligen Gottes, über das die Weisheit den Schleier gebreitet hat, schmückt das Einfache wunderlich aus und beraubt das Wunder seines Schmucks, baut eine Märchenwelt aus den Steinen auf, welche die göttliche Wahrheit gegründet hat. Und doch hören die Kinder nichts lieber als die knappen, kunstlosen Worte der Heiligen Schrift und leben in der Passionsgeschichte ihres Heilands. Es ist keusche Treue, Bibelwort und Christuswerk wortgetreu und einfach zu erzählen. Wenn dann das Kind in der kleinen Schule aus dem Munde des Lehrers nach dem Gottbüchlein dieselbe Geschichte vernimmt, die ihm die Mutter berichtete, so gewinnt es Lehrer und Mutter noch lieber, jenen, weil er so gut, diese, weil sie so gescheit ist. – Aber der Jüngling und Mann verlernen und verlassen zwar das Kindische, nicht aber den Kindessinn. Unsre heranwachsende Jugend erfährt wohl viel von der Bibel, was der gesagt und jener gemeint habe, aber in den eigentlichen Inhalt dringt sie kaum mehr ein. So ist auch die Bibelfestigkeit bedenklich in Abnahme. Und es gehört nimmer zu den Mängeln an Bildung, die man nicht nachsehen kann, wenn die auffälligste Unkenntnis in der Heiligen Schrift von einem dritten Korintherbrief, von dem unbekannten Hiskia spricht und in Jakobus sucht, was in Johannes steht oder den Hebräerbrief im Alten Testamente vermutet. Es wäre auch Treue, wenn der religiöse Memorierstoff, mit dessen Besitz unsre Vorfahren uns so sehr beschämen, fleißiger eingeprägt und nicht er zuerst dem Schrei der Überbürdung geopfert würde. Wie kann unser Geschlecht in trüben Tagen sich noch trösten, an festen Stäben sich aufrichten, wenn es diese Stäbe nimmer kennt! Wir wollen nicht vergessen, wie viel der Religionsunterricht in Kirche und Schule leisten will und noch leistet. Gott vergelte alle hier angewandte Treue. Aber besonders in unsren Mittelschulen, aus denen der Bürger-, der Beamtenstand hervorgeht, ist die Freude am Gotteswort nimmer so vorhanden als es ehedem war. 1877 hatte ich das Glück, den Religionsunterricht des sel. Oberkonsistorialrats D. Seybold († 1891) zu genießen, an dessen Grab im alten nördlichen Gottesacker zu

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Hermann von Bezzel: Pflichten in ernster Zeit. Carl Junges Buchhandlung, Ansbach 1914, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Pflichten_in_ernster_Zeit.pdf/7&oldid=- (Version vom 8.8.2016)