Seite:Hermann von Bezzel - Die Heiligkeit Gottes.pdf/6

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
II.

 Die Geschichte der christlichen Kirche, die nie Wiederholungen, wohl aber Wellenbewegungen kennt, welche das Untere zur Höhe und Höhen zu Tal bringen, Bewegungen, die in scheinbarer Regelmäßigkeit zeitlicher, in wirklicher der logischen Folge aneinander grenzen, lebt immer zwischen Aufgang und Niedergang, der die Strafe für die Unterschätzung des Gegebenen ist, das man nicht ausgekauft und nutzbar gemacht hat, aber auch das Verlangen nach besseren Zeiten und das Gelübde größerer Treue gegen sie erweckt. Der letzte Tag der Kirche auf Erden wird herankommen, wenn alle Reformationsgaben und -möglichkeiten in der gläubigen Gemeinde auf- und ausgebraucht sein, und die Knechte sich bereiten werden, das wohlbewucherte Pfund in die Hände des heiligen Gläubigers zurückzugeben. Da und so hast du das deine, und als solches erkenne es! Gegenüber den apokalyptischen Träumereien einer neuen Geistesausgießung betet die Kirche, daß der Heilige Geist nicht von ihr genommen werden möge. Und nicht um neue Wege bittet sie, sondern um neuen Willen.

 Wir aber stehen zurzeit nicht an einem „Wendepunkte“, der vor dem Eintritt der Ewigkeit in die Zeit bis zum Eintritt der Zeit in die Ewigkeit überhaupt nicht eintreten wird, sondern in den geringen Tagen, welche die stille gehenden Wasser des Kirchenlebens aus Wort und Sakrament, des geordneten Wesens und Wirkens verachten und Geistesströme herbeisehnen, die nicht befruchten, sondern das gute Land entführen und Schlamm und Geröll zurücklassen. Wir lassen uns von der Versöhnung der Kultur mit der Religion etwa nach der Weisung des Dichters predigen, daß, wer Wissenschaft und Kunst besitzt, auch Religion habe, und verwechseln Ästhetik mit Ethik, religiöse Anschauung mit Glaubensbesitz, religiöses Interesse mit dem an Gottes Wort gebundenen Gehorsam. Weigel und Schwenkfeld sind die genuinen Reformatoren, und die Schwärmerei, welche von der Offenbarung sich löst und ihren eigenen Eingebungen lauscht, ist das Normativ für diejenigen, welche Christi, Pauli, Luthers und das eigene Wort aus eine Linie stellen, weil der Geist wehe, wie und wo er will. Unsere kritischen Theologen gehen in die Schule der Mystiker, und unsere Mystiker finden sogar die Kritik erwärmend und belebend. Über die theologischen Differenzen breitet die große Losung des Gesamtprotestantismus, der gegen alles, nur nicht gegen sich protestiert, die Fahne des Burgfriedens hin, während

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die Heiligkeit Gottes. Dörffling & Franke, Leipzig 1916, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Heiligkeit_Gottes.pdf/6&oldid=- (Version vom 9.9.2016)