Seite:Helmina von Chézy - Der neue Narziß.pdf/22

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Wo in der Quelle Fluth sich spiegelt mein Gesicht?
Vergeßlicher, kenn’ ich die alte Linde nicht?
Der grüne Rasensitz, der hier im halben Bogen
Um den bemoosten Stamm, dicht an dem Quell gezogen,
Beut mir den ersten Sproß zu meines Glückes Leiter!
Auf niederm Aste dort klimm ich gemächlich weiter,
Auf den belaubten Zweig, der über’n Quell hin reicht
Setz ich mich rittlings hin, von dorten kann ich leicht
Mein Antlitz wohlgemuth zur klaren Quelle neigen,
Dann wird der Schönsten mich die Fluth bei Mondlicht zeigen!
(Er geht nach der Linde.)
Wie zweifelt ich doch je an ihres Busens Triebe?
Wie könnt es seyn, daß sie die rohen Burschen liebe,
Die tölpisch, dumm und dreist nur in den Tag’ nein küssen,
Nicht zierlich Reden dreh’n, und nichts von Büchern wissen?
Sie ist ein feines Kind, blieb stets vom Trotz entfernt,
Und was sie weiß, hat sie von mir allein gelernt!
O, bin ich erst ihr Mann, wie will ich da mich pflegen!
Wie wird sie schön mir thun, und Sorgfalt für mich hegen,
Sie strickt mir meinen Strumpf mit Händchen voller Zier,
Sie bürstet meinen Rock, stutzt die Perücke mir,
Kraft-Süppchen kocht sie mir in feuchten Nebeltagen,
O, häuslich stilles Glück wie sollst du mir behagen!
Wir fragen nicht nach Tand, nach Ball, Concert und Moden,
Idyllen dicht’ ich nun, statt der verwünschten Oden,
Weltlichtleins ländlich Glück, beschrieben Tag für Tag,
Und eh man sichs versieht, wird es ein Almanach!
Denk’ ich der Zukunft erst, wie wird ums Herz mir da!
Die Kinder hör ich schon: Papachen, mein Papa!
Was willst du, kleiner Schelm? was soll es, arger Lecker?

Empfohlene Zitierweise:
Helmina von Chézy: Der neue Narziß. Lustspiel in einem Aufzug. Fleischer, Leipzig [1824], Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Helmina_von_Ch%C3%A9zy_-_Der_neue_Narzi%C3%9F.pdf/22&oldid=- (Version vom 12.9.2022)