An dem wilden Kirschenzweig gestern weitergearbeitet. u. ihn so weit gebracht, daß er als Grundlage für ein Bild dienen kann. Die Zeichnung selbst ist zwar noch nicht gut, jedoch enthält sie jetzt Entwicklungsmöglichkeiten, die ein gutes Bild versprechen. Ich spannte dazu einen neuen Keilrahmen auf u. grundierte die Leinewand noch gestern Abend, aber die restliche Grundierfarbe, die ich noch habe, ist nicht mehr recht zu gebrauchen, sodaß die Leinewand heute morgen, nachdem sie trocken geworden war, allzu porös geworden war. Ich konnte deshalb damit nichts anfangen u. mußte sie noch einmal grundieren, fürchte aber, daß auch jetzt noch nichts daraus wird.
Eine schlechte Nacht gehabt, viel Schmerzen im Bein. Ich machte gegen 3 Uhr Licht u. fand, daß meine Venen in auffälliger Weise sehr dick geschwollen waren, sowohl an Armen u. Händen wie auch an den Beinen. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Am Morgen war diese Erscheinung dann wieder verschwunden. Martha ist in einer rührenden Weise besorgt um mich.
Heute sollen bereits zehn Gäste im Kurhause eintreffen. Es heißt, daß viele sehr prominente Künstler herkommen sollen. Fritz bemüht sich außerordentlich, das Geschäft auf einen ordentlichen Stand zu bringen.
Die politische Entwicklung bewegt sich in der von mir erwarteten Weise weiter. Die pariser Außenminister-Konferenz hat sich „vertagt“, um nicht das hoffnunglose Wort zu gebrauchen, sie sei ergebnislos abgebrochen worden. Man will Frieden schließen mit den ehemaligen Feinden, kann aber nicht verhindern, daß ein Krieg der Gegensätze unter den ehemaligen Freunden ausbricht. Der Oberbürgermeister von Frankfurt meldet bereits ganz öffentlich den Anspruch seiner Stadt an, die neue Hauptstadt des Deutschen Reiches zu werden, was nur so viel bedeuten kann, daß man ein Auseinanderbrechen des Reiches in eine westliche u. östliche Hälfte für unvermeidlich hält. Damit wäre dann das Reich endgültig erledigt. Die Russen entwickeln mehr u. mehr eine Politik des Ausgleiches in der östlichen Zone, man sagt, sie wollten ihre Besatzung noch weiter vermindern, sodaß hier bei uns nur noch Rostock u. Schwerin besetzt sein sollen. Da nun in der westlichen Zone der Hunger immer größer wird, während man bei uns zur Not leben kann, gewinnen die Russen mehr u. mehr Sympathie. Sonst aber schweigt man. Es verlautet kein Wort davon, daß der Osten sich selbständig machen wird, aber ich erwarte es mit immer größerer Gewißheit.
Wir beginnen, uns auf einen kohlenlosen Winter einzurichten. Wir werden die Zentralheizung still legen müssen u. versuchen, Kachelöfen zu bekommen. Es ist uns endlich gelungen, das alte Flüchtlings-Ehepaar Meier mit ihrem idiotischen Sohn los zu werden, sie ziehen jetzt eben um in das „Haus am Meer“, wo Frau Lenhardt sehr froh ist, daß jemand in dem leer stehenden Hause wohnt u. die verbliebenen Reste in Ordnung hält. Wir werden den Kachelofen, der in ihrem bisher bewohnten Zimmer in kleinen Hause steht, abreißen u. in mein Atelier stellen lassen, bei mir unten werde ich vielleicht einen eisernen Kanonenofen aufstellen lassen, damit ich wenigstens mein Schlafzimmer etwas anwärmen kann. Die Kohlennot bereitet mir ernsthafte Sorge.
Die Andacht gestern war schwach besucht, da zur gleichen Zeit ein Propaganda-Redner der CDU. in Althaben im Ostsee-Hotel eine Rede hielt. – Nachmittags waren wir bei Küntzels zum Kaffee anläßlich des Geburtstages von Grete, die uns ihren Garten zeigte. Sie hat umfangreiche
Hans Brass: TBHB 1946-05-25. , 1946, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1946-05-27_001.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2024)