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habe seine eigene Tochter zur Frau begehrt und, als diese sich geweigert, ihr Hände und Brüste abschneiden und ein weißes Hemd antun lassen, darauf sie in die Welt fortgejagt. Im weiteren Verlauf aber, der fast ganz nach ihr erzählt ist, übertrifft sie an innerer Vollständigkeit die erste, aus der nur beibehalten ist, daß der Teufel die Briefe vertauscht, während es hier die alte Königin tut, die von Anfang gegen ihre Schwiegertochter bös gesinnt ist. Eigentümliche Züge der Kassler Fassung[1] sind noch, daß das Mädchen, eh sie der König heiratet, eine Zeitlang die Hühner an seinem Hofe hütet und daß hernach, als sie mit dem Kind auf dem Rücken in den wilden Wald verstoßen ist, ein alter Mann sie heißt die abgestumpften Arme dreimal um einen Baum schlingen, während hier Arme und Brüste durch Gottes Gnade von selbst wieder wachsen. Auch sagt er ihr, daß sie das Haus, in welchem sie wohnen soll, nur dem öffnen dürfe, der dreimal um Gottes willen darum bitte; was hernach der König, als er davor kommt, tun muß, eh er eingelassen wird.

Eine dritte Erzählung aus dem Paderbörnischen stimmt im ganzen mit der aus Zwehrn. Statt eines Engels leitet ein vom Himmel herabkommendes Lichtlein das arme Mädchen. Als es im Wald mit den abgehauenen Händen umhergeht, sieht es ein blindes Mäuschen, das den Kopf in ein vorbeirinnendes Wasser hält und dadurch wieder sehend wird; da hält das Mädchen unter Beten und Weinen die Arme ins Wasser, und es wachsen ihm die Hände wieder.

Eine vierte Erzählung aus dem Mecklenburgischen (vor 1822) enthält eine andere Gestaltung der Sage. Ein Mann hat eine Tochter noch im Kindesalter, die betet immer Tag und Nacht. Da wird er bös und verbietet es ihr, aber sie betet immer fort; da schneidet er ihr endlich die Zunge aus, aber sie betet in Gedanken und schlägt das Kreuz dazu. Da wird der Mann noch zorniger und haut ihr die rechte Hand ab, aber sie schlägt mit der linken das Kreuz. Da haut er ihr den Arm bis an den Ellbogen ab. Nun spricht ein Mann zu ihr: ‘Geh fort! Sonst haut dir dein Vater auch noch den linken Arm ab.’ Da war sie erst sieben Jahr alt, und ging fort und immer fort, bis sie abends vor ein großes Haus kam, vor dem stand ein


  1. Wie das Mädchen sich mit seinen Tränen rein wäscht, so tut in einer schwedischen Ballade (Geijer-Afzelius, Svenska folkvisor 1880 nr. 58,2 ‘Stjufmoderen’) die aus dem Grabe kommende Mutter an ihren Kindern; ‘Hon tvätta’ dem så snöhvit’ allt uti ögnatår’.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_296.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)