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(Moiren) bei der Geburt des Knaben verkündeten, und rettet den Bruder im dritten Jahre vor dem Feuer, im siebenten vor einem Sturze und tötet in seiner Brautnacht die auf ihn herabfahrende Schlange. In einer armenischen Erzählung aus dem Bezirk Jelisawetpol im Kaukasus (Etnograf. Obozr. 45, 171) hört die Schwester nur von der Gefahr am Hochzeitstage des Helden; sie wird belebt durch das Wasser, in welchem Sonne und Mond Gesicht und Hände gebadet haben. In einem andern armenischen Märchen aus dem Gouv. Eriwan (Sbornik Kavkaz. 24, 2, 273 nr. 41) wird das Mädchen, das den Bruder vor dem Tode durch ein Pferd, einen Büffel und einen Sturz vom Baume bewahrt hat, versteinert wie in unserm Märchen; der Bruder wandert durch die Welt, bis er Paradieswasser findet und die Schwester damit erweckt. Und ebenso schließt ein imeritinisches Märchen aus Kutais (Sbornik Kavkaz. 19, 2, 56 nr. 7). Das Mädchen sieht die Prophezeiung der Engel sich erfüllen, daß ihr ältester Bruder auf der Jagd und der zweite beim Fischen seinen Tod finden werde; das dem dritten bestimmte Los, daß an seinem Hochzeitstage eine Schlange aus seinem Schuh kriechen und ihn umbringen werde, wendet sie, indem sie die Schuhe ins Feuer wirft. Als der Bruder sie zwingt zu sagen, warum sie das getan, wird sie zu Stein. In einem ähnlichen bulgarischen Märchen (Šapkarev, Sbornik 8 nr. 107) gelingt es der Schwester nicht, den Bruder von dem vorausgesagten Schicksal zu retten.


6a. Von der Nachtigall und der Blindschleiche.

Es waren einmal eine Nachtigall und eine Blindschleiche, die hatten jede nur ein Aug und lebten zusammen in einem Haus lange Zeit in Frieden und Einigkeit. Eines Tags aber wurde die Nachtigall auf eine Hochzeit gebeten, da sprach sie zur Blindschleiche: ‘Ich bin da auf eine Hochzeit gebeten und möchte nicht gern so mit einem Aug hingehen. Sei doch so gut und leih mir deins dazu! Ich bring dirs morgen wieder.’ Und die Blindschleiche tat es aus Gefälligkeit.

Aber den andern Tag, wie die Nachtigall nach Haus gekommen war, gefiel es ihr so wohl, daß sie zwei Augen im Kopf trug und zu beiden Seiten sehen konnte, daß sie der armen Blindschleiche ihr geliehenes Aug nicht wiedergeben wollte. Da schwur die Blindschleiche, sie wollte

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_057.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)