Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I/Von der Nachtigall und der Blindschleiche

Der getreue Johannes Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I (1913) von Johannes Bolte, Jiří Polívka
6a. Von der Nachtigall und der Blindschleiche
Der gute Handel
[57]
6a. Von der Nachtigall und der Blindschleiche.

Es waren einmal eine Nachtigall und eine Blindschleiche, die hatten jede nur ein Aug und lebten zusammen in einem Haus lange Zeit in Frieden und Einigkeit. Eines Tags aber wurde die Nachtigall auf eine Hochzeit gebeten, da sprach sie zur Blindschleiche: ‘Ich bin da auf eine Hochzeit gebeten und möchte nicht gern so mit einem Aug hingehen. Sei doch so gut und leih mir deins dazu! Ich bring dirs morgen wieder.’ Und die Blindschleiche tat es aus Gefälligkeit.

Aber den andern Tag, wie die Nachtigall nach Haus gekommen war, gefiel es ihr so wohl, daß sie zwei Augen im Kopf trug und zu beiden Seiten sehen konnte, daß sie der armen Blindschleiche ihr geliehenes Aug nicht wiedergeben wollte. Da schwur die Blindschleiche, sie wollte [58] sich an ihr, an ihren Kindern und Kindeskindern rächen. ‘Geh nur’, sagte die Nachtigall, ‘und such einmal!

Ich bau mein Nest auf jene Linden
So hoch, so hoch, so hoch, so hoch,
Da magst dus nimmermehr finden.’

Seit der Zeit haben alle Nachtigallen zwei Augen und alle Blindschleichen keine Augen. Aber wo die Nachtigall hinbaut, da wohnt unten auch im Busch eine Blindschleiche, und sie trachtet immer hinaufzukriechen, Löcher in die Eier ihrer Feindin zu bohren oder sie auszusaufen.


Übersetzt aus dem Französischen: Mémoires de l’académie celtique 2, 204 (1808; vgl. 4, 102), wo Légier das Märchen und den Glauben unter den Solognots nachgewiesen hat. Die französischen Reime ahmen den Ton der Nachtigall glücklicher nach:

Je ferai mon nid si haut, si haut, si haut, si bas,
Que tu ne le trouveras pas.

Irrtümlich findet sich Grimms Text, in Warendorfer und in mecklenburgische Mundart umgesetzt, bei Firmenich 1, 283 und in Raabes Plattdeutschem Volksbuch 1854 S. 234 als echt deutsches Märchen; vgl. dazu R. Köhler 1, 72 = Zs. f. Volkskunde 1, 53.

Seitdem ist das Märchen auch in andern Gegenden Frankreichs aufgezeichnet worden: Rolland, Faune populaire 2, 270. 3, 21. 22; Sébillot, Folklore de France 3, 162. 255, Laisnel de la Salle, Croyances et légendes 1875 2, 245 und Berry 2, 294; Revue des langues rom. 4, 317; Revue des trad. pop. 1, 177; Tradition 4, 250 (Elster statt Nachtigall). Doch wird, wie Dähnhardt (Beiträge zur vgl. Sagenforschung, Progr. 1908 S. 7 und Natursagen 3, 136 f.) nachweist, auch sonst oft erzählt, daß zwei Tiere ein Tauschgeschäft eingehen und daß eines das andre dabei betrügt. Nach mecklenburgischer Überlieferung (Wossidlo 2, 350) leiht die Blindschleiche (Hartworm) ihr Auge an die Nachtigall oder Taube, die zur Hochzeit will, oder an den Storch oder die Schlange, ohne es wiederzuerhalten, nach rutenischer (Lud 9, 3, 289. 1903) die Zecke ihren Rumpf an die Nachtigall, nach rumänischer (Revue des trad. pop. 8, 595) der Zaunkönig seinen Schwanz an die Bachstelze, nach böhmischer (Grohmann, Aberglaube nr. 471) der Kuckuck seine Krone an den Wiedehopf usw., vgl. Sumlork, Staročeské povĕsti 1, 501. Zu Shakespeares Zeit (Romeo and Juliet III, 5) erzählte man in England, daß die Lerche und die Kröte ihre Augen getauscht hätten.


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