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die allseitige Erwägung aller Umstände, um Bildung des sittlichen Urteils. So wichtig für diesen Zweck die dialektische Bildung ist (siehe Melanchthons Erotemata), so kommt doch die rechte Weisheit erst aus der Erfahrung und einem gottseligen Gemüt. Wer anderen darin als Führer dienen soll, braucht besondere Begabung dazu. Das Hauptgewicht aber liegt bei der sittlichen Bildung an der Bildung der Willenskraft. Das Wollen muß vor allen Dingen gehorsam werden, d. h. willig und geschickt, die erkannte sittliche Wahrheit sofort ins Leben überzuführen, damit nicht die Erkenntnis und der Wille in einer Zweiheit verharren. Der Wille muß, der eigensinnigen Steifheit oder auch Trägheit los, ebenso beweglich als im erkannten und ergriffenen Guten fest und unbeweglich (1 Kor. 15, 58) werden. Das gibt Charakterstärke und Gewandtheit im Guten. Aber durchaus nicht gering zu achten noch zu vernachlässigen ist die Ausbildung des sittlichen Gefühls. Es muß im Menschen der Sinn für das Edle und Schöne auf dem sittlichen Gebiet geweckt und gebildet werden, daß er’s an anderen bewundert und bei sich nachahmt. Hier wirken am meisten hohe Vorbilder und große Beispiele. Die praktische Ausbildung dieses Sinnes aber besteht darin, daß der Mensch einen Takt bekommt, jenen inneren Tastsinn, der es vermag, überall das Passende, Wohlanständige und Schickliche zu thun (cf. Löhe, „Über das Schickliche und Schöne“). So gewinnt der Mensch innerlich und äußerlich eine Gott ähnliche Gestalt und wirkt in diesem Sinn gestaltend auf andere.


§ 4.
Die völlige Verantwortlichkeit des Menschen für sein sittliches Handeln und seine durchgängige Abhängigkeit von seiner Natur und Umgebung. – Die natürliche und sittliche Eigentümlichkeit.

 Jeder Mensch weiß sich im innersten Grund der Seele frei und darum verantwortlich für sein sittliches Handeln; das macht, er ist eine vernünftige freie Persönlichkeit, das ist: ein sich seiner selbst bewußtes, sich selbst bestimmendes Wesen, das in einem ursprünglich gesetzten Zusammenhang mit Gott steht; das ist die Grundvoraussetzung alles sittlichen Handelns. Der Wille des Menschen hat den Vorzug, daß er von keiner Macht außer ihm gezwungen werden kann, etwas (mit Lust) zu wollen, was er nicht will. Darin sind alle Menschen einander gleich, so wie für sie alle die allgemeinen Normen des sittlichen Handelns gleich sind.