Seite:Fliegende Blätter 1.djvu/147

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Die Liebeswerbung.


Zwei werben um ein Mägdlein schön –
Das Mägdlein spricht in Hulden:
„Vor meinem Fenster mögt Ihr steh’n
Und treulich Euch gedulden.

5
Und wer vom Platze nimmer weicht,

Dem wird zuletzt der Kranz gereicht –
Was thut man nicht aus Liebe!“

So stehen sie nun sonder Trug,
Die beiden wackern Jungen;

10
Der Eine gar die Laute schlug,

Der And’re hat gesungen.
Sie steh’n und harren sonder Wank,
Sie stehen tag- und mondenlang –
Was thut man nicht aus Liebe!

15
Der Winter kommt, es kommt der Reif,

Sie glänzen wie von Glase,
Sie frieren ein, sie frieren steif,
Voll Eis hängt ihre Nase.
Sie sind in Schnee wie eingescharrt,

20
Ihr Mantel wie ein Panzer starrt –

Was thut man nicht aus Liebe!

Der Frühlingssonne milde Gluth
Beginnt das Eis zu schmelzen;
In Strömen rinnt die Wasserfluth

25
Von ihren Winterpelzen.

Das Mägdlein spricht: „Nun geht nach Haus,
Ihr hieltet gut und wacker aus –
Was thut man nicht aus Liebe!“

Der Eine hört’s und läuft davon

30
Und hat sich rasch empfohlen

Und sagt: „Mamsell! den Liebeslohn
Will ich mir später holen.“
Der And’re spricht: „Jetzt wird es schön,
Jetzt will ich con amore steh’n –

35
Was thut man nicht aus Liebe!“


Er steht und steht, bis gar ein Strauch
Umwachsen seine Glieder.
Da beugt mit zartem Liebeshauch
Die Maid sich zu ihm nieder:

40
„Nimm hin den Kranz, mein Held so kühn!“

Er aber flüstert aus dem Grün:
„Was thut man nicht aus Liebe!“


H. M.

Empfohlene Zitierweise:
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 1). Braun & Schneider, München 1845, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_1.djvu/147&oldid=- (Version vom 16.9.2022)