Dass es beim Professorenstand anders sein sollte, ist schwerlich anzunehmen. Auch hier hat es seit allen Zeiten liebenswürdige und unliebenswürdige gegeben, zugängliche und unzugängliche Persönlichkeiten, zuvorkommende Menschen und grosse Flegel, solidere und leichtsinnigere Menschen. Oder glauben vielleicht die Verfechter der Personalfrage, dass unter den Ordinarien nur vollständige Tugendspiegel gefunden werden? Sollen wir ihnen einige Namen von Ordinarien anführen, die keine Keuschheitspriester oder gar solche, die keine Alkoholverächter oder Temperenzler sind? Sollen wir ihnen Ordinarien nennen, die sich fast jeden Tag betrunken haben?
Man wird also zunächst keinen vernünftigen Grund ausfindig machen können, warum bei einer Berufungsangelegenheit auf derartige persönliche Eigenschaften, sobald sie nicht Aergerniss erregen, ein grosses Gewicht gelegt wird, dass sie brieflich erkundet werden, in den Sitzungen vorgetragen werden und unter Umständen einen Einfluss auf die ganze Angelegenheit ausüben können. Dies Verfahren führt mit unfehlbarer Sicherheit zu den widerwärtigsten Uebertreibungen, Taktlosigkeiten und Indiscretionen. Uns ist in der That eine Reihe von Fällen, die wir namhaft machen können, bekannt geworden, in welcher eine als ganz sicher erscheinende Berufung im letzten Augenblick dadurch rückgängig gemacht worden ist, dass aus dem Brief eines Collegen oder nach persönlicher Erkundigung irgend ein Klatsch, mitunter
Hans Flach: Der deutsche Professor der Gegenwart. Leipzig 1886, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Flach_Der_deutsche_Professor.djvu/224&oldid=- (Version vom 17.8.2016)