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„Die rote Kappe ist das Rot der Morgenröte, und Rotkäppchen selbst ist die Morgenröte. Der Kuchen und der Topf Butter, die sie bringt, weisen vielleicht auf die Opferbrote und die als Opfer dargebrachte Butter. Die Grossmutter ist eine Personifikation der alten Morgenröte, dem sich jede neue anschliesst. Der Wolf ist entweder die verzehrende Sonne oder die Wolke und die Nacht.“ In solchem Phantasiespiel ging man so weit, dass der wissenschaftliche Ernst gänzlich zu verschwinden begann.

Es verging eine lange Zeit, ehe die grimmschen Ansichten auf ernsteren Widerstand stiessen. Im Jahre 1859 stellte der göttinger Sanskritforscher Theodor Benfey in der Einleitung zu der deutschen Übersetzung des Pantschatantra über den Ursprung der Märchen eine neue Auffassung auf, die die Märchen von der ihnen von den Brüdern Grimm gegebenen geheimnisvollen mythischen Hülle befreite und sie mit der Literatur verband. Nach Benfey stammen beinahe alle Märchen aus Indien, wo der Buddhismus sie geschaffen hat – davon der Name indische Theorie – und von dort sind sie hauptsächlich durch die Vermittlung der Literatur über die ganze Welt gewandert. Nur die Tiermärchen, die in den äsopischen Fabeln ältere Vertreter haben als in den indischen, haben sich in entgegengesetzter Richtung bewegt, von Griechenland nach Indien. In ihrer Art waren die indischen Märchen so vorzüglich, dass sie bald die bei den verschiedenen Völkern möglicherweise bekannten ähnlichen Erzählungen verdrängten und leicht nationalisiert wurden. Benfey meint, die Verbreitung der Märchen sei vom 10. Jahrhundert an geschehen, als die islamitischen Völker sich immer mehr mit Indien bekannt zu machen begannen und die indischen Erzählungssammlungen sich durch Übersetzungen in den islamitischen Reichen in Asien, Afrika und Europa und durch sie in dem christlichen Okzident verbreiteten. Nach den Gebieten im Osten und Norden hatten die indischen Märchen schon früher mit der

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Antti Aarne: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung. Suomalaisen Tiedeakatemian Kustantama, Hamina 1913, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FFC13.djvu/8&oldid=- (Version vom 31.7.2018)