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die Märchen wie eine Strähne verwirrten Garnes erscheinen, durch welche zu dringen unmöglich ist, aber der ernste Forscher erkennt sie bald als stehende Erzählungen, die in dem Munde des Volkes nebeneinander leben. Sie beeinflussen sich zwar gegenseitig, vermischen und verwickeln sich, bald verengern sie die vollständige Form, bald erweitern sie sich wieder usw., aber eine Eigentümlichkeit der Märchen ist es, dass sie in ihren einzelnen Zügen und Teilen Schwankungen zeigen, während der Stamm der Erzählung derselbe bleibt. Dies kommt daher, dass sie von Anfang an in ihrer Komposition bestimmte Erzählungen gewesen sind, deren ursprüngliche Form man ausfindig machen kann. Und dass die Sache sich so verhält, hat die auf zahlreiche volkstümliche und ältere literarische Varianten gegründete vergleichende Forschung unwiderleglich festgestellt.

Beispiele davon, wie in den Märchen, von den in ihren einzelnen Teilen geschehenen Formveränderungen abgesehen, der Stamm der Erzählung sich doch erhält, ergibt uns jedwede vergleichende Märchenforschung. Das Märchen lebt ein Jahrhundert nach dem anderen in seinen Hauptzügen unverändert. Es kommt z. B. niemand in den Sinn zu bezweifeln, dass das im persischen Tuti-Nameh von Nachschebi befindliche, aus der volkstümlichen Überlieferung sich herleitende Zaubervogelmärchen dasselbe ist wie das in den verschiedenen Teilen von Europa und Asien gegenwärtig im Munde des Volkes lebende gleiche Märchen. Nachschebi’s Tuti-Nameh stammt aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts n. Chr. Also hat das 600-jährige Leben im Munde des Volkes das Märchen in seinen Grundteilen nicht verändert.

Jedes Märchen ist also ursprünglich eine feste Erzählung, die nur einmal an bestimmter Stelle und zu bestimmter Zeit entstanden ist. Dieser Gedanke ist einer der Grundgedanken der Märchenforschung. Unter denjenigen, die ihn leugnen, ist man bisweilen dahin gekommen, die Möglichkeit

Empfohlene Zitierweise:
Antti Aarne: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung. Suomalaisen Tiedeakatemian Kustantama, Hamina 1913, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FFC13.djvu/16&oldid=- (Version vom 31.7.2018)