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der Seele, von den Geistern u. a. bei allen Völkern die gleichen waren, ohne dass man von dem Einfluss eines Volkes auf das andere sprechen konnte. Nach diesen Gründen schliessen die Anthropologen: da die ursprüngliche Denkart, der Glaube und die Phantasie bei allen Völkern sehr ähnlich sind, folgt daraus, dass in verschiedenen Gegenden selbständig ähnliche Märchen entstanden sind. Die gleichen seelischen Voraussetzungen erzeugen ja gleiche Produkte. Die Übereinstimmung der Märchen bei den verschiedenen Völkern braucht also nicht auf eine gegenseitige Abhängigkeit oder Entlehnung hinzudeuten, sondern sie ist ein Ergebnis des mehrmaligen Entstehens der Märchen.

Es zeugt von dem Fernblick der Brüder Grimm, dass sie schon in ihrer Zeit die Möglichkeit auch derartiger Ansichten bemerkten. Wir wollen mit dem Vorangehenden folgende aus dem dritten Bande der „Kinder- und Hausmärchen“ entnommene Worte vergleichen:[1] „Es giebt aber Zustände, die so einfach und natürlich sind, dass sie überall wiederkehren, wie es Gedanken giebt, die sich wie von selbst einfinden, es konnten sich daher in den verschiedensten Ländern dieselben oder doch sehr ähnliche Märchen unabhängig von einander erzeugen: sie sind den einzelnen Wörtern vergleichbar, welche auch nicht verwandte Sprachen durch Nachahmung der Naturlaute mit geringer Abweichung oder auch ganz übereinstimmend hervorbringen.“ Neben der Hauptauffassung der Brüder Grimm wurden diese ihre Gedanken jedoch weniger beachtet.

Von diesen drei für die Erklärung des Ursprungs der Märchen eingetretenen Hauptrichtungen hat die grimmsche heute nur wenig Bedeutung mehr, zu der benfeyschen bekennen sich noch einzelne Forscher, obgleich die Einseitigkeit der Ansichten Benfeys stark gemildert werden


  1. Grimm, KHM (Reclam) III S. 427.
Empfohlene Zitierweise:
Antti Aarne: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung. Suomalaisen Tiedeakatemian Kustantama, Hamina 1913, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FFC13.djvu/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)