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ungeduldig ausrief: „Ich beschwöre Sie, Klemens, lassen Sie mein Handwerkszeug in Ruhe.“

Er gehorchte resignirt, als ein ritterlicher Mann, der gewöhnt ist, in strenger Zucht gehalten zu werden und gleich wieder den kurzen Zügel zu fühlen, so bald er sich ein wenig gehen lassen möchte. Seine Aufmerksamkeit wandte sich dem „anonymen Brautpaare“ zu, wie er Paul und Thekla nannte. Die jungen Leute hatten sich in den Saal begeben.

Thekla nahm Platz am Klavier: die ersten Takte einer Bertinischen Etüde erklangen unter ihren Fingern. Sie spielte rein, nett, mit bewunderungswürdiger Geläufigkeit. Goldene Lichter schimmerten auf den reichen Flechten ihrer blonden, natürlich gewellten Haare; ihr Gesicht nahm einen gehaltenen, aufmerksamen Ausdruck an, jenen Ausdruck, den Paul nicht sehen konnte in ihren Zügen, ohne mit innigstem Entzücken zu denken: Du bist mehr, als du selber weißt, mehr als du scheinst, mehr als die Flachheit des Lebens, das du führest, ahnen läßt.

Er stand ihr gegenüber, legte die verschränkten Arme auf das Klavier, beugte sich vor und versank in die Wonne ihres Anblicks.

„O Schönheit! Herzbezwingerin! Herrin, Königin! – Du bist der Frieden, – wer kann dir grollen? Du bist der Sieg, – wer kann dir widerstehen? Nur kurzsichtige Thorheit frägt, ob in der schönen Hülle eine schöne Seele wohne. Die Hülle ist nur darum schön, weil die Seele sie schön belebt. Eins sind Form und Wesen; sie sind

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Marie von Ebner-Eschenbach: Nach dem Tode. In: Erzählungen. Berlin: Gebrüder Paetel, 1893, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Erz%C3%A4hlungen_von_Marie_von_Ebner-Eschenbach.djvu/362&oldid=- (Version vom 31.7.2018)