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und wollte noch meinen dort wohnenden Schwager aufsuchen. Seine Adresse hatte ich; ich wußte nämlich die Straße und Hausnummer, es war aber schon dunkel, daß ich die Nummer nicht mehr erkennen konnte, und die vollkommen menschenleere Quergasse langsam niederschreitend, hoffte ich an irgend einem Haus einen Menschen zu finden, den ich fragen konnte.

Da verließ Jemand vor mir eine Thür und ging die Straße hinab; es war ein Mann in Hemdsärmeln, jedenfalls ein Markthelfer, mehr konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen. Als ich ihn eingeholt frug ich ihn, ob er nicht zufällig wisse, in welcher Gegend hier Nr. 22 liege.

„Ja wohl, Herr Gerstäcker“, sagte der Mann so ruhig, als ob er mir noch gestern und alle Tage hier in derselben Straße begegnet wäre, und wir jetzt hellen Sonnenschein und nicht finstere Nacht gehabt hätten. Es lag ordentlich etwas Geisterhaftes in dieser Nennung meines Namens unter solchen Umständen, und unwillkürlich frug ich, „aber kennen Sie mich denn?“ – „Na, werd’ ich Sie nicht kennen“, sagte der Mann – „da drüben ist gleich das Haus“. – Incognito hätte ich hier nicht reisen können.

Den nächsten Tag verbrachte ich, wie schon gesagt, in Leipzig, um vor allen Dingen einen neuen Paß nach Oestreich zu bekommen. Ein merkwürdiges Gefühl war es mir aber dabei, durch die alten bekannten Straßen zu gehen und in den Läden, in den Fenstern die nämlichen Menschen mit der nämlichen Beschäftigung zu sehen, wie ich sie vor langen Jahren verlassen hatte. Die waren nicht fortgewesen in der ganzen Zeit; die hatten Tag für Tag ihrem Beruf an derselben Stelle obgelegen und während mir eine Fluth von Erinnerungen durch die Seele ging, kannte die ihre kein anderes Bild, als diese selben engen Straßen boten.

So sitzen hier Leute, die ich mich besinnen kann auf der nämlichen Stelle gesehen zu haben, als ich noch, ein Knabe, da in die Schule ging. Sie kamen mir damals schon alt und ehrwürdig vor und sahen heute genau noch so aus; nur daß sie früher keine grauen Haare hatten. Dieselben Menschen sind immer dageblieben, und wo bin ich indessen herumgewandert – was hab’ ich erlebt – was gesehen – und wie drängt es mich noch immer neuen Scenen entgegen zu eilen, während diese still und genügsam in dem engen Kreise sich bewegen, den ihnen die eigene Wahl oder das Schicksal angewiesen. Und wenn wir sterben, ruhen wir vielleicht neben einander, und die Erinnerung ist todt und fort.

Und soll ich dir, freundlicher Leser, jetzt erzählen, wie ich nach Brünn kam, bis wohin mir meine Frau mit dem Kind entgegenfahren wollte – wie ich mich von Nachtfahrten und übermäßiger Anstrengung zum Tod erschöpft in meinen Kleidern auf das Bett geworfen hatte, den um Mitternacht eintreffenden Zug dann zu erwarten? Wie mich der Kellner nicht geweckt, und plötzlich mitten in der Nacht Frau und Kind, die ich in 39 Monden nicht gesehen, im Zimmer standen, und wie der kleine, indessen vierjährig gewordene

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Friedrich Gerstäcker: Eine Heimkehr aus der weiten Welt. Ernst Keil, Leipzig 1860, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Heimkehr_aus_der_weiten_Welt-Gerstaecker-1860.djvu/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)