Seite:Ein verlorener Posten 92.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

war? Was hätte er darum gegeben, auf den Grund dieser Seele blicken und ihre geheimsten Gedanken lesen zu können! Die trübseligste und prosaisch-ernüchterndste Gewißheit wäre ihm erträglicher gewesen, als dieses Schwanken zwischen dem innigsten und gläubigsten Vertrauen und dem zähesten, häßlichsten Verdacht, und die niederschlagende Aussicht auf ein langes Fortbestehen des quälenden Rätsels. Er rang sich wund und müde an diesen Zweifeln, und Licht und Finsternis wechselten jäh und unvermittelt in seiner Seele. Er hatte des Weges wenig acht gehabt und kaum bemerkt, daß der Mond aufgegangen war, und als ein schmaler Seitenweg, den er lange verfolgt hatte, mitten im Walde plötzlich auf eine Chaussee ausmündete, entdeckte er mit einem gewissen Staunen und einem leichten Kopfschütteln, daß er sich auf der Straße von M. nach W. befand; es war eine wunderliche Irrfahrt gewesen, die ihn zufällig hierher gebracht hatte. Mitternacht war vorüber und er hatte noch einen weiten Heimweg vor sich; er schritt rascher aus, während Proud gemächlich neben ihm hertrottete, aber sein Blick schweifte am Boden hin, und er war so tief in sein schmerzliches Brüten versunken, daß seine Sinne alles Wahrnehmungsvermögen verloren hatten. Er hörte den Hufschlag nicht, der von weither durch die nächtliche Stille hallte, und die beiden Reiter, die in scharfem Trabe auf ihn zukamen, waren ihm schon ziemlich nahe, als er sie bemerkte; er trat mechanisch und gleichgültig von der Mitte der von Gräben gesäumten Straße auf den schmalen Fußweg, um den beiden Reitern Platz zu machen; aber in demselben Augenblick wechselte der eine Reiter von der linken Seite seines Gefährten auf die rechte, so daß er jetzt auf dem Fußweg ritt, und Wolfgang, der in diesem Moment erst die beiden Husarenoffiziere in ihnen erkannt hatte, erriet blitzschnell auch ihre Absicht. Man wollte den im Wortgefecht so schlagfertigen Gegner durch ein „unglückliches Mißverständnis“, an dem er schließlich auch noch die Schuld trug, zu einem Sprung in den breiten, mit schmutzigem Regenwasser gefüllten und ohne Anlauf nicht zu überspringenden Graben zwingen, oder ihn durch den ungestümen Anprall der trabenden Pferde in den Graben stoßen. In solchen Augenblicken vollzieht sich der Gedankenprozeß mit einer rätselhaften Geschwindigkeit. Wolfgang sah, daß er überritten worden wäre, wenn er versucht hätte, auf die andere Seite der Straße zu gelangen; so rief er denn, alle Vergünstigungen der Notwehr entschlossen für sich in Anspruch nehmend, Proud zu: „Faß ihn — hoch!“, während er dem Pferde des Premierlieutenants in die Zügel fiel. Er hatte sich vollständig darauf gefaßt gemacht, niedergerissen und vielleicht ein Stück mit fortgeschleppt zu werden, aber so eisern war der Griff seiner Faust gewesen, daß das edle Tier zitternd und schnaubend sich zurückstellte. Der Zornruf des Premierlieutenants wurde von dem dumpfen Geheul übertönt, mit dem Proud plötzlich an dem Pferde des Rittmeisters in die Höhe sprang, und von einem Kasernenfluch des Reiters und einem schweren, planschenden Schlag ins Wasser. Das Pferd hatte sich in wildem Schreck hoch aufgebäumt — es drehte sich

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_92.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)