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der Lüge, des Scheins, des Argwohns, der Verstellung und der List in das der Wahrheit, des Vertrauens, der Klarheit, der Offenheit, der Ehrlichkeit zu flüchten, und wieder zu sein, was er so manches Jahr gewesen — ein armer, einsamer Denker und Träumer, der ruhig und glücklich war, weil er auf eigenen Füßen stand und weil nichts den Einklang und Frieden seiner Seele störte.

Wolfgang war zunächst nach seiner Wohnung gestürmt! ein Pfiff brachte Proud an seine Seite, und mit diesem treuen Gefährten so manches aufreibenden Streifzugs bei Tag wie bei Nacht schlug er den nächsten Weg nach den Bergen ein. Es that ihm so wohl, endlich allein zu sein, und als die letzten Lichter der Stadt in der Dunkelheit erloschen waren, wie kleine, glimmende Pünktchen, strich er mit der Hand langsam und nachdrücklich über die Stirn, als wolle und könne er die quälende Erinnerung an die letzten Stunden aus seinem Gedächtnis weglöschen. Es wollte ihm freilich nicht gelingen, und so stark war die Neigung seines Herzens bereits geworden, daß sie den Kampf mit dem kalten, argwöhnischen Verstand ausnahm und seinen mißtrauischen Reflexionen, seinen spöttischen und höhnischen Einflüsterungen nicht ohne Gegenwehr Gehör lieh. Wohl erschien ihm Martha im einen Moment als die verblühende Schönheit, die mit zäher Beharrlichkeit und mit listiger Berechnung ihre Netze auswirft und ihre Taktik für jeden Fall ändert, und er erinnerte sich an jeden kleinen Zug, der sich als ein lockendes Entgegenkommen deuten ließ — im nächsten stieg ihr Bild in seiner ganzen nachdenklichen, ernsten, beinahe wehmütigen Schönheit vor ihm auf, und sie brauchte nur die Worte zu sprechen: „Hältst Du mich wirklich einer Berechnung für fähig?“, um ihn zu entwaffnen. Die brutale Sicherheit, mit der der Rittmeister bis zu dem Moment, in dem er Wolfgang an Marthas Seite sah, darauf gerechnet hatte, daß seine Bewerbung um sie eine erfolgreiche sein werde, hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht; konnte der Mann das Selbstvertrauen und die Frauenverachtung soweit treiben, sich im voraus als ihren Gatten zu sehen, wenn er nur wollte, ohne daß sie ihm bestimmte Anhaltspunkte dafür gegeben hatte, daß seine Bewerbung ihr hochwillkommen sein werde? Es war kaum zu glauben, doch — wenn sie nun früher sehr zufrieden damit gewesen wäre, gegen die Nutznießung ihres Vermögens sich einen flügellahmen Husarenoffizier zu „kaufen“, und nur jetzt, wo sie Chance hatte, nicht bloß die Hand, sondern obendrein die aufrichtige Neigung eines arglosen, zur Schwärmerei geneigten, blühenden jungen Mannes zu erlangen, schwierig wurde und sich einer reservierten Haltung befleißigte, da ihr der Rittmeister infolge seiner Finanznöte immer noch sicher war? Wolfgang hätte sich selber hassen mögen, um dieser mißtrauischen argwöhnischen Regungen willen, die ihn so unglücklich, so elend machten, und wie sollte er den traurigen und zugleich verächtlichen und vorwurfsvollen Blick ertragen, den sie vielleicht berechtigt war, ihm vorzuwerfen, wenn ihr je eine Ahnung von diesen Zweifeln kam, von denen jeder eine Beschimpfung ihrer Menschen- und ihrer Frauenehre

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_91.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)