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dieses „bizarren“ Charakters beschäftigt, benutzte Martha den ersten Anlaß, aus dem Saale zu flüchten, der ihr urplötzlich wie verwandelt schien. Der Lichterglanz, die rauschende Musik, das Lachen und Flüstern, der wogende Tanz — alles that ihrem übervollen Herzen weh, und sie atmete tief auf, als sie in ihrem Zimmer allein war. Vor einem Stuhle brach sie, das Gesicht mit den Händen bedeckend, in die Knie, und lange, lange erschütterte ein krampfhaftes Schluchzen ihren Leib und schwere Thränen rollten durch die Finger der schlanken, weißen Hände. Ihr war, als hätte sie Wolfgang in dem Augenblick für immer verloren, wo er sich anschickte, ihr seine Freundschaft und die Teilnahme eines Bruders zu schenken. Und verzweifelt fragte sie: „Was ist geschehen, was habe ich ihm gethan? Welches Geheimnis drängt sich unerbittlich zwischen mich und ihn?“

Wolfgang ballte in Scham und Weh, in Zorn und Trotz die Fäuste, als er das Haus verließ, er biß die Zähne knirschend aufeinander, er nagte sich die Unterlippe wund und wiederholte sich hundertmal: „Keinen Schritt wieder über diese Schwelle.“ Er empfand eine Art von wilder Genugthuung darüber, den Offizieren mit Erfolg die Stirn geboten zu haben, und doch war er ihnen beinahe dankbar dafür, daß sie ihm die Augen geöffnet, daß sie ihn gewarnt und ihm gezeigt hatten, welche unwürdige Rolle er spielte, wie fern ihm auch die gemeine Berechnung lag, die man ihm andichtete. In greller Klarheit stand es vor seiner Seele, daß er in diesem Hause nicht verkehren, daß er seinen Bewohnern gegenüber nicht Mensch sein und sich einfach gehen lassen durfte, daß überall Fußangeln und Selbstschüsse lagen und daß die größte Vorsicht unvermögend war, ihn zu schützen. Er war noch erbittert über die Geringschätzung, mit der die Husaren von Martha gesprochen hatten, und doch blieb etwas von dem Spott über das alternde Mädchen, das sich einen jungen Mann „kauft“, mit vergiftendem Widerhaken in seiner Seele hängen, und er fragte sich, ob er nicht wie ein arglos summender Käfer in ein feines Netz von arglistigen Freundlichkeiten und feinen Avancen gegangen sei, in dem er sich schließlich doch rettungslos verstrickt hätte. Noch war es zum Glück nicht zu spät, noch konnte er das feine Gewebe zerreißen, und je schwerer es ihm wurde, sich aus seiner Zukunft dieses sanfte, kluge, ernste Mädchen wegzudenken, das er im einen Moment beschuldigte, ihm Fallen zu stellen, und das er im nächsten Moment gegen die ganze Welt auf Tod und Leben verteidigt haben würde, desto kälter und schärfer diktierte er sich die Trennung von ihr als den einzigen Ausweg aus diesem Labyrinth, als die einzige Rettung davor, endlich in eine schiefe, haltlose Lage zu geraten und in die bittersten Konflikte mit seinem besten und eigensten Sein. Die moralische Luft in jenem Hause war schwül zum Ersticken — er würde es nie lernen, dort zu atmen; der Fluch des Goldes lag auf dem Hause und seinen Bewohnern und zwischen ihm und ihnen konnte nie Gemeinschaft sein. Er hätte aufjauchzen mögen bei dem Gedanken, daß es in seiner Macht lag, sich mit einem Ruck frei zu machen und sich aus dem Reiche

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_90.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)