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Minuten vorher erst vorgestellt wurden, und ihre zarte Jungfräulichkeit erträgt ohne die geringsten Skrupel und ohne Unbehagen die Möglichkeit, im einen Moment von dem Manne ihrer Wahl und im nächsten von einem notorischen Wüstling umarmt zu werden, der vielleicht aus dem „Boudoir" einer Tingeltangel-Sängerin nach dem Ballsaal gefahren ist. Was von Person zu Person und unter vier Augen eine Gunst, ein indirektes Zugeständnis süßester Neigung wäre, wird im Ballsaal mit vollen Händen verschenkt; man macht sich zum Gemeingut, und der sittenloseste Mensch mag sich sein Teil annektieren, sobald er in einen Frack geschlüpft ist und seine Finger in weiße Glacés gezwängt hat; erforderlich ist dann nur noch eine tadellose Verbeugung und die Dame, die nicht bereits für alle Tänze versagt ist — und wäre ihr der Mensch noch so verhaßt und verächtlich —, hat einfach Folge zu leisten, will sie nicht überhaupt auf das Tanzen verzichten. Es ist merkwürdig, wie leicht von sonst ganz feinfühligen Menschen der unsittliche Kern einer Sitte übersehen wird und wie selten sich Naturen finden, die kein Bedenken tragen, auch über die altehrwürdigsten Bräuche nachzudenken, sie einer Kritik zu unterziehen und sie zu verurteilen, wenn sie ihnen widersinnig und häßlich erscheinen. Ich darf ganz offen bekennen, den modischen Rundtanz, der durch den Vergleich mit den meist graziösen Nationaltänzen geradezu lächerlich-unschön wird, von Kindesbeinen auf gehaßt zu haben, und es ist dies einer von den wenigen Punkten, über die ich erbittert und hartnäckig streiten kann, einer von den wenigen Punkten, über die ich leidenschaftlich zu werden vermag."

Er unterdrückte, was ihm noch auf den Lippen schwebte; er wollte nicht an den Vorwurf erinnern, den in Jordans „Demiurgos" Heinrich der Geliebten macht, daß sie

am Tanz, am dargestellten Sinnenbrand,
In seiner Gegenwart Gefallen fand.

Er mochte Goethes und des Dichterlords Aeußerungen über den Walzer nicht erwähnen, und Martha widersprach ihm ja auch nicht, sondern meinte nachdenklich, sie habe nie passioniert getanzt, und seit es ihr einmal eingefallen sei, mit zugehaltenen Ohren hinabzublicken in einen von galoppierenden Paaren erfüllten Saal, habe sie sich des Tanzens möglichst enthalten und sei immer bemüht gewesen, Engagements zu entgehen; höre man die Musik nicht, so meine man, unter Tollhäusler geraten zu sein, und diesen Eindruck habe sie nie verwinden können; über Wolfgangs Einwände müsse sie erst reiflich Nachdenken — sie seien überraschend und fast erschreckend und beschämend für sie, und solche neue Gesichtspunkte wollten sorgsam erwogen sein. Wolfgang gab dem Gespräch unmerklich eine andere Wendung, und Martha hatte ihn im Geiste auf einer Fußwanderung durch die Berge und Schluchten von Nordwales begleitet und mit ihm in Glan-y-Coed Strandferien verlebt, verträumt und verangelt, als sie sehr unliebsam und unerwartet gestört wurden. Ein Husaren-Rittmeister, der seine nicht mehr zu bemäntelnde Glatze wohl mehr dem üblichen „Leben" der Kavallerieoffiziere als

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_82.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)