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Sinn sich gewagt hatte. Wolfgang, dem es schon schwer geworden wäre, dem flachen Fräulein Emmy eine von den banalen Schmeicheleien zu sagen, bei denen man sich nichts denkt und mit denen man bewußt falsche Münze ausgiebt, die aber doch begierig als echtes Gold genommen werden, würde sich Martha gegenüber jeden Kompliments und jedes Anklangs an die alltägliche Kurmacherei geschämt haben, und was er aus Ueberzeugung hätte sagen können, unterdrückte er gewaltsam, und mit einer Besorgnis, die etwas höchst unbehagliches hatte, unterwarf er jedes Wort einer peinlichen Censur und fragte sich, ob er nicht vielleicht bereits zu weit gegangen sei. Er hätte so gern sich gehen lassen, er hätte so gern vergessen, daß Martha gewissermaßen der Compagnon seines Chefs war, er hätte so gern nur das einsame Mädchen in ihr gesehen, das an ihm die ersehnte männliche Stütze, den Berater und Leiter zu finden schien, aber er stolperte fortwährend über das abgeschmackte, häßliche, brutale Wort: „er hat sich schlauerweise in die Fabrik eingeheiratet“, und dann wurde der Blick seiner Augen dunkel und streng und die Lippen schlossen sich fest aufeinander und von seinen offenen, ausdrucksfähigen Zügen verlor sich der freundliche Ausdruck. Dieses wechselnde Spiel des Affekts, dieser Widerschein des inneren Kampfs entgingen Martha nicht — traten sie doch zu Tage wie das jähe Sichablösen von Licht und Schatten auf einer Landschaft, die man an einen: Sommertage, an dem die Sonne mit rasch ziehenden Wolken in Hader liegt, vom Hügelkamm überschaut. Aber das arme Mädchen wußte sich diesen Wechsel des Ausdrucks nicht zu erklären, und beklommen und beunruhigt stand sie einem Rätsel gegenüber, ohne den Mut zu direkter, offener Frage. Das Gespräch der beiden hatte von dem Tanz, der den Saal mit wirbelnden Paaren erfüllte, kaum Notiz genommen: da flog Emmy im Arm eines jungen Husarenoffiziers vorüber und ihr Fächer deutete, während ihr Mund lächelnd einige Worte flüsterte, deren Sinn sich nicht einmal erraten ließ, auf die in ihr Geplauder Vertieften, die wie Bruder und Schwester, die über eine ernste, aber ihnen angenehme Angelegenheit sich unterhalten, beisammen saßen. Martha sah ihr einen Moment nach und wendete sich dann an Wolfgang mit der Frage:

„Sie perhorreszieren das Tanzen principiell?“

„Allerdings — es ist in meinen Augen eine schreiende Inkonsequenz, eine sanktionierte Verhöhnung der heilig gesprochenen Sitte. Auf der einen Seite sind die jungen Mädchen unnahbar, die geringste Unschicklichkeit läßt sie tief erröten und viele Dinge, die an sich sehr unschuldig und natürlich sind, dürfen in ihrem Beisein nicht erwähnt werden; es giebt nichts zarteres und verletzlicheres als ihre Schamhaftigkeit — und an einem Ballabend machen sie in der raffiniertesten Weise Parade mit allen irgend zu zeigenden Reizen. Man würde Zeter schreien über den jungen Mann, der im Feuer des Gesprächs sich erlaubte, ihre Hand zu fassen — und an einem Ballabend geht sie aus einem Arm in den anderen und schmiegt sich an wildfremde junge Männer, die ihr fünf

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_81.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2018)