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und sie, mehr mit den Augen als mit den Lippen zu bitten, unverbrüchliches Schweigen über diesen ungewöhnlichen Besuch zu beobachten. Proud sah sie an, als verstehe er sie, und wie beschwichtigend rieb er den großen, weichbehaarten Kopf leise an ihrer Hand und stieß sie zärtlich mit der kalten Schnauze und als sie, seltsam bewegt, ihre Hand über des Tieres Kopf gleiten ließ, sprang Proud auf einen Stuhl neben ihr und legte, zutraulich und gravitätisch zugleich, eine seiner mächtigen Pranken für einen Augenblick auf ihre Schulter, so daß Frau Meiling ganz erstaunt sagte: „Sie müssen es dem Tier geradezu angethan haben, Fräulein Hoyer — solche Zärtlichkeiten hat er sonst nur für seinen Herrn, und ich habe mir viel Mühe geben müssen, bis wir gute Freunde wurden.“ — In der Zwischenzeit hatte Leontine das Buch weggelegt und entdeckt, daß sie ganz allein im Zimmer war; ein prüfender Blick überzeugte sie, daß man, wenn man am Kopfende von Wolfgangs Lager stand, durch die halboffene Thür gedeckt war und vom Flur aus nicht gesehen werden konnte; sie trat geräuschlos dorthin, beugte sich über den Schlafenden nieder, strich mit den Fingerspitzen das leichtgekräuselte Endchen Stirnhaar zurück, das sich unter dem Verband vordrängte, und hauchte gedankenschnell einen Kuß auf seine Stirn, dann glitt sie, heimlich frohlockend und doch sehr geneigt, sich ernstliche Vorwürfe zu machen, aus dem Zimmer und als sie zu Martha sagte: „Ich glaube aber, es ist hohe Zeit, daß wir Frau Meiling unseren Dank abstatten!“, da klang das so unbefangen, als wäre ihr Herz, weit davon entfernt, rascher zu schlagen und als fühle sie nicht, wie ihre Wangen brannten. Man verabschiedete sich rasch, Leontine zog Marthas Arm wieder in den ihrigen und führte die völlig Verstummte den Weg zurück, den sie gekommen waren; sie fühlte das Bedürfnis, wenigstens eine Art von Gespräch in Gang zu bringen und warf die Bemerkung hin, daß dieses Junggesellenzimmer sie merkwürdig interessiert habe es sei nicht nach der Schablone eingerichtet gewesen, sondern habe etwas sehr Individuelles und Charakteristisches gehabt, das ganz gut zu der Eigentümlichkeit seines Bewohners stimme. Martha pflichtete ihr bei, aber in einem Tone, der deutlich verriet, daß sie am liebsten nicht geantwortet hätte; sie hatte in der That nicht auf Einzelheiten geachtet und noch weniger ans Kritisieren gedacht. Um so klarer und schärfer stand das Bild des dämmerhellen Gemachs vor ihrem geistigen Auge; dieses Bild hatte sich ihr unverlöschlich eingeprägt und sie wußte, sie würde es nie vergessen. — Es ging an jenem Abend, zum Staunen Emmys, merkwürdig ruhig am Theetisch des Kommerzienrats zu; sowohl Martha als Leontine hingen sichtlich ihren Gedanken nach und verfügten sich so zeitig als möglich zur Ruhe. Als sie einen Moment sich allein gesehen hatten, hatte Martha, wie aus einem schweren Traum erwachend, zu Leontine gesagt: „Ich habe Dir noch nicht einmal gedankt und doch bin ich Dir großen Dank schuldig — es war am besten so.“ Leontine hatte hierüber gelinde Zweifel, aber sie schwieg.

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_64.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)