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Wieder schrak Martha zurück und wieder übernahm Frau v. Larisch die Führung und sagte, als sei alles ein kleines, scherzhaftes Abenteuer: „Also Sie garantieren dafür, daß er schläft und nicht aufwacht, und Sie werden zu schweigen wissen — auch gegen ihn?“ indem sie der voraufgehenden und sich in geflüsterten Beteuerungen erschöpfenden, höchlichst geschmeichelten alten Frau unbefangen folgte. Martha zauderte — aber konnte und durfte sie zurückbleiben? Sie sollte einen Blick in sein kleines Heim werfen, sie sollte ihn selber sehen, ohne daß er eine Ahnung davon hatte; welche Rücksicht war so stark, das; sie sich von ihr zurückhalten lassen durfte? Und Leontine allein gehen lassen? sie empfand etwas wie eine Regung von Eifersucht bei diesem Gedanken, und diese Regung entschied — sie folgte den Vorausgegangenen, aber sie wagte kaum den Fuß fest auf die Stufen zu setzen und schrak bei jedem Knarren der ausgetretenen Stufen, bei jedem Knirschen des groben, weißen Sandes unter ihren Stiefelchen leicht zusammen. Ihr war, als thue sie, wenn auch halb gezwungen, etwas, was sie nicht thun dürfe, etwas, wodurch sie die Achtung des jungen Mannes verscherze, wenn er davon erführe — und wie leicht war das möglich! Aber man ließ ihr keine Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen — Frau Meiling kehrte eben aus dem Zimmer Wolfgangs zurück, die Thür offen lassend. Frau v. Larisch trat, ihr mit einem schwer zu deutenden Lächeln zunickend, voran und setzte den Fuß — allerdings auch nur nach einem leichten Zögern — über die Schwelle auf den jeden Schritt erstickenden, dichten Läuferteppich.

So weit wagte Martha sich nicht; sie lehnte den Kopf (einen Fuß auf der Schwelle, einen noch außerhalb derselben) an den Thürpfosten links, von wo aus sie das ganze dämmerhelle Zimmerchen überblicken konnte, und wagte kaum zu atmen. Der friedlich Schlummernde bot ihr in scharfer Silhouette sein Profil; er hatte den rechten Arm hinter den Kopf gelegt, der linke lag auf der weichen, bunten Decke. Wie blaß war er! der Verband um den verwundeten Kopf stach nicht von der Hautfärbung ab; wie gern hätte sie einmal wenigstens mit bebender Hand diesen Verband erneuert. Sie hatte die Hände der schlaff niederhängenden Arme ineinandergelegt und so sah sie unverwandt nach dem Lager des Verwundeten, während Frau v. Larisch, aus jeder verrinnenden Sekunde Ermutigung zu größerer Keckheit saugend, sich überall umsah, die Bilder betrachtete, einen Moment vor dem Bücherschrank stehen blieb und sich so genau orientieren zu wollen schien, wie man es an einem Orte zu thun pflegt, den man voraussichtlich nie wieder betreten wird und der doch Interesse für den Besucher hat. Sie hatte ein Buch in die Hand genommen, in dem sie geräuschlos blätterte; so übersah sie es, daß Frau Meiling leise das Zimmer verließ, von Proud gefolgt, der sich musterhaft ruhig verhalten und nur jede Bewegung der Damen achtsam und staunend und doch wieder so ruhig, als begreife er die Situation, mit den klugen Augen verfolgt hatte. Martha trat sofort ebenfalls zurück auf den Flur und zu der alten Frau, um ihr zu danken

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_63.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)