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gelangt, das mehrere arme Weberfamilien bewohnten, gab Frau v. Larisch Jean die Weisung, ihre Rückkunft abzuwarten, da sie einen Krankenbesuch abzustatten hätten, und es hatte dies für den eben nicht durch hervorragenden Scharfsinn ausgezeichneten und alles Nachdenken instinktiv verabscheuenden Burschen durchaus nichts befremdliches, da Marthas Verkehren gerade in den armseligsten Hütten stadtkundig war; nur die Thatsache, daß es ihr gelungen war, auch die lustige „gnädige Frau“ für diese ihm unerklärliche „Passion“ zu interessieren, entlockte ihm, als die Damen im Hause verschwunden waren, ein unverständliches Gebrumm. Frau v. Larisch zog ihre sie betroffen ansehende Begleiterin, deren Arm sie vertraulich in den ihren gelegt hatte, durch die stockdunkle Hausflur und einen verödeten Hof und stieß dann eine niedrige Thür auf, durch welche sie auf eine dahinter gelegene Straße gelangten. Wenige Schritte und sie standen vor dem Hause der Frau Meiling, und Frau v. Larisch sah mit einem Gemisch von Rührung und Spott, wie eine tiefe Glut die Wangen Marthas überflutete und verriet, daß sie jetzt erst den Zweck des Ausgangs errate. Frau v. Larisch ließ ihr keine Zeit zur Ueberlegung und schien es nicht zu bemerken, daß Martha unwillkürlich einen Schritt zurücktrat und unwillkürlich die Hand um ihren Arm schloß, als wolle sie sie zurückhalten; sie war Frau genug, um zu wissen, daß gerade die Zartfühligsten oft zu dem gezwungen sein wollen, wonach sie am meisten sich sehnen, und sie würde sich eine Stümperin gescholten haben, wenn es dieser Schwäche gelungen wäre, sie von der Ausführung ihres Gedankens abzuhalten. Im nächsten Augenblick war ihnen überhaupt der Rückzug abgeschnitten; Wolfgangs alte, treue Pflegerin trat aus ihrem Zimmerchen im Erdgeschoß und Frau v. Larisch legte eine Nuance von Herablassung in die anmutige Sicherheit, mit der sie der alten Frau vorflunkerte, sie seien zufällig an ihrem Hause vorübergekommen und da seien sie auf den Einfall geraten, sich einmal persönlich nach dem Befinden ihres Mietsmannes zu erkundigen. Martha erschrack in tiefster Seele, als Leontine ihr Schuld gab, besonders der Beruhigung zu bedürfen, da sie sich komischerweise als die, wenn auch unabsichtliche und schuldlose Urheberin seiner Verwundung ansehe; sie hätte gern Protest eingelegt, aber sie brachte kein Wort über die Lippen und ihre Augen hingen an dem welken Munde der alten Frau, als diese mit der ganzen Redseligkeit ihres Geschlechts und ihres Alters die gewünschte Auskunft über den Verlauf der Verwundung gab und das gegenwärtige Befinden Wolfgangs als vollkommen beruhigend bezeichnete. Ob Frau Meiling erriet, daß auch diese gründliche Auskunft die tröstliche Wirkung des Augenscheins nicht aufzuwiegen vermochte? Sie sagte, plötzlich, nicht ohne eine leichte Verlegenheit und mit einem unmerklichen Stocken der Stimme:

„Wenn die Damen übrigens — er schläft ganz fest und wacht vor morgen früh nicht auf — ich würde Sie bitten, einen Augenblick mit heraufzukommen; ich weiß freilich nicht — aber vielleicht ist dann Fräulein Hoyer ganz beruhigt.“

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_62.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)