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dem Rufe Folge leisten müsse. Sie lächelte über das Beobachtungstalent, das die Kleine, die doch sonst nicht scharfsinnig genannt werden konnte, bezüglich des Gemütszustandes Marthas entwickelte, und je weniger sie die Richtigkeit dieser Wahrnehmungen bestreiten mochte, desto prickelnder war das Interesse, das sie an dem weiteren Verlaufe dieses kleinen Romans nahm. Warum sollte sie sich auch nicht gestehen, daß sie selber eine Art von Unruhe empfand und daß sie Verlangen trug, sich persönlich von dem Befinden des jungen Mannes zu überzeugen, dessen That sie in einem Augenblick ihrer Kühnheit wegen bewunderte, um sie im nächsten verwegen und tollkühn, oder doch unklug und unvorsichtig zu schelten? Es würde ihr doch nicht gleichgültig gewesen sein, durchaus nicht gleichgültig, wenn er sich eine schwere Verletzung zugezogen hätte oder gar ein unheilbares Siechtum, und sie hatte aus tiefster Brust erleichtert aufgeatmet, als sie sich sagen konnte, daß keine Veranlassung zu ernsthaften Besorgnissen vorliege. Natürlich hielt sie es für geboten, bei ihrer Ankunft Emmy nach allem anderen früher zu fragen, als nach dem Befinden Wolfgangs, und als Emmy, die dies in ihrer Naivetät unbegreiflich fand, das aufregende Vorkommnis ihrerseits ungeduldig zur Sprache brachte, nahm sie die Sache sehr leicht, suchte ihr eine komische Seite abzugewinnen und plauderte mit einer Sorglosigkeit, die für Emmy etwas Verblüffendes, für Martha etwas geradezu Verletzendes hatte, über den ganzen Vorfall. Es war ihr dabei nicht entgangen, daß Marthas Gesicht alle Spuren schlafloser und vielleicht sogar verweinter Nächte trug; die bläulichen Ringe unter den müden, fast erloschenen Augen und das kleine, feine Fältchen, das sich von den Mundwinkeln abwärts zog, entwickelten eine stumme Beredtsamkeit, die an ihr nicht verloren ging. Das arme Mädchen that ihr leid — sie konnte sich denken, wie ihr zu Mute war und wie sie in hilfloser Sorge sich verzehrte. Es war ein ganz leises, gutmütiges Spottlächeln, mit dem sie im Geiste zu Martha sagte: „Nicht wahr, ich bin recht herzlos, so herzlos, daß selbst du, die ewig Milde, mich nicht in Schutz nehmen magst? Regt es sich nicht in deiner Seele wie ein bitteres Gefühl über die Kälte und Fühllosigkeit der Weltkinder, zu denen du — „Gott sei Dank“ — nicht wahr? — nicht gehörst? Aber wenn du mich auch jetzt verurteilst — ich werde feurige Kohlen auf dein Haupt sammeln und in ein paar Stunden wirst du mir in überwallendem Empfinden dankbar und gerührt die Hand drücken, denn ich bin doch nur gekommen, um dir, die mich so völlig verkennt, in deiner stummen Herzensnot zu helfen.“ Als es völlig dunkel geworden war und Emmy sie auf einige Zeit verlassen hatte, forderte sie Martha im gleichgültigsten Tone auf, sie auf einer kurzen Abendpromenade zu begleiten — Jean könne ihnen ja zu größerer Sicherheit und zur Wahrung des Dekorums folgen, und Martha that ihr ahnungslos den Willen; dicht verhüllt, den Schleier vor dem Gesicht, waren die beiden Frauengestalten nur schwer kenntlich, als sie, von Jean in respektvoller Entfernung gefolgt, durch die Straßen schritten. Vor einem Hause an

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_61.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)