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erbittert oder unmutig, von ihm abwendete. Besonders während des Krieges gegen Frankreich hatte man es in der Gluthitze des Paroxismus nicht an Anfeindungen des „Vaterlandslosen“, des „Franzosenfreundes“ fehlen lassen, und es waren ihm brutale Aeußerungen zu Ohren gekommen, die ihn aufs tiefste schmerzten. Es ging ihm die Fähigkeit ab, einem zungenfertigen Gegner die Stange zu halten und nach ein paar formlosen Sätzen, die er hervorgepoltert hatte, kam er gewöhnlich ins Stocken und auf seinen Wangen zeigten sich scharf umgrenzte rote Flecke — ein sicheres Zeichen, daß es in ihm kochte und gärte und daß er doch keinen schlagenden Ausdruck für seine Gedanken zu finden vermochte. Mit düsterem Blick, die Arme über der Brust verschränkt, biß er dann wohl die Zähne aufeinander, fraß seinen Groll stumm in sich hinein und gelobte sich, kein Wort mehr zu erwidern, aber wenn man dann, ihm zum Tort und Hohn, die Wacht am Rhein anstimmte, so mühte sich seine rohe, tonlose Stimme doch wieder ab, mit seinem geliebten Revolutionslied:

Allons, enfants de la patrie!
Le jour de gloire est arrivé!

durchzudringen, und wenn er schließlich, von der Menge niedergebrüllt, mit glühendem Gesicht zornig auf und davon ging, schallte ihm spöttisches Gelächter nach, ja, er hatte mehrfach heftige Auseinandersetzungen mit seinen besten Freunden gehabt und die meisten waren dem „Un¬verbesserlichen“ auf diese Weise entfremdet. Er litt unter diesen noch nachwirkenden Zerwürfnissen mehr als er hätte sagen können, denn er war ein entschiedener Gemütsmensch und hinter seinem galligen, verbissenen Trotz und Hohn barg sich eine große Weichheit der Empfindung, deren er sich schämte, deren Aeußerungen er aber oftmals vergebens zu unterdrücken strebte. So durfte ihn niemand an ein Töchterchen erinnern, das er besonders lieb gehabt hatte und das ihm in demselben Monat gestorben war, in dem es zum erstenmal hatte zur Schule gehen sollen, ohne daß es unter dem dichten Schnurrbart schmerzlich um die Mundwinkel zuckte, und der Gang nach dem kleinen, sorgfältig gepflegten Grabe war fast sein einziger Spaziergang; traf man ihn dort, so fuhr er gewiß mit dem Rücken der braunen Hand über die Augen, um die Thräne zu unterdrücken, die ihm beim Anbinden und Ausputzen, der Blumen unwillkürlich ins Auge getreten war. Hand in Hand mit dieser Weichheit ging eine verstohlene Begeisterungsfähigkeit, die selbst für den etwas Rührendes hatte, der sie komisch fand; er wußte jede Zeile der schwertscharfen, glockentönigen Lyrik auswendig, durch die Herwegh und Freiligrath den Bewegungsjahren die poetische Weihe gaben, und besonders Freiligrath war sein erklärter Liebling; bei ihm fand er dieselbe Anschauung, die alle seine Urteile färbte: „Es giebt nur zwei Parteien — die Reichen und die Armen; alle anderen Parteiunterschiede sind Spiegelfechterei und Schattenspiel an der Wand,“ und mit der er nur noch denen gegenüber herausrückte, die er halb und halb für seine Gesinnungsgenossen hielt; man hatte diese Formulierung seiner tief

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_55.jpg&oldid=- (Version vom 28.10.2018)