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behauptete. Die Lebensirrfahrten der Armen, durch deren Seele ein unheilbarer Bruch ging, hatten ein trübes Ende gefunden; sie hatte an der Seite eines Lehrers, eines einfachen Bauernsohns, das Glück zu finden gesucht, für das ihr feiner gebildete Männer keine Bürgschaft gegeben hatten und an dem Scheitern dieser letzten Illusion war sie zu Grunde gegangen. Martha hatte diese Weise weitgehendsten Vertrauens und eines fast leidenschaftlichen Offenbarungsdrangs nicht erwidert; was hätte sie auch der Freundin offenbaren sollen? Daß sie das Gefühl habe, sie werde mit ihrer Umgebung nie zufrieden sein und daß eine scheue, aber standhafte Ueberzeugung von dem Dasein menschlich-schönerer und beglückender Lebensformen in ihr lebe? Daß sich seit vielen Tagen — und am Schlusse „vergnügter“ Tage und nach dem glänzendsten und gelungensten „Zerstreuungen“ am meisten — vor dem Schlafengehen ein müdes: „Gott sei Dank, daß wieder ein Tag vergangen ist!“ halb unbewußt auf ihre Lippen drängte? Daß es ihr sei, als lebe sie unter einem bleifarbenen Himmel und in einer von Nebeldunst erfüllten Atmosphäre, ohne daß sie zu hoffen wage, es werde einst ein scharfer Luftzug das Nebelbrauen wegfegen und an einem tiefblauen reinen Himmel werde die Sonne siegend emporsteigen? — Nun war sie glücklich und doch so wehmütig gestimmt, daß sie hätte weinen mögen wie ein Kind, ohne recht zu wissen, warum? Sie fühlte nur, es werde eine große Wohlthat für sie sein, und doch wollte keine Thräne in die Augen kommen, die noch lange der Schlummer hartnäckig floh. Sie überdachte ihr ganzes vergangenes Leben — wie lag es so grau und tot und fröstelnd hinter ihr! Und was würde die Zukunft ihr bringen? Sie wußte es nicht und sie hoffte nichts — nur das eine fühlte sie tief, und schon in diesem Bewußtsein lag ein ungeahntes Glück so, wie es gewesen war, konnte es künftig nicht mehr sein. Sie fühlte festen Boden unter den Füßen und vielleicht wußten die Lippen, die so freundlich zu ihr geredet hatten, daß es ihr war, als wisse sie nun erst, was es heiße, einen Bruder zu haben, auch das erlösende und befreiende Wort für ihr verkümmerndes, freudloses, unter einem dumpfen Drucke schmachtendes Leben. Und kam es so, dann war ihr, hatte sie auch des Lebens schönste Jahre vertrauert, doch vielleicht eine versöhnende Nachblüte beschieden und sie konnte sagen, daß sie doch nicht umsonst gelebt.

Wenige Tage später sollten die Gedanken Wolfgangs, die trotz aller seiner Vorsätze mit einer befremdlichen Hartnäckigkeit immer wieder zu der schlanken Gestalt und den schönen, dunklen Augen Martha Hoyers zurückkehrten, in ziemlich gewaltsamer Weise von ihr abgelenkt werden.

Er hatte nachts lange gelesen und den Versuch, zum Schluß noch (aus rein kritischem und psychologischem Interesse natürlich) ein paar Kapitel in einem der Gouvernantenromane zu lesen, die in unseren Unterhaltungsblättern eine so bedenkenerregende Rolle spielen, mit dem Einschlafen bezahlt. Die Lampe war erloschen, das Heft war seiner Hand entglitten und lag auf dem Teppich zu Füßen des altväterischen, aber

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_47.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)