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ein Verbrechen an ihm selber, dem vielleicht nie wieder eine so tiefe, schöne und glücklose Natur entgegentrat, ein Verbrechen an ihr, der der Zufall wohl nicht zum zweitenmal eine Poetennatur zuführte, die sich magisch von ihr angezogen fühlen mußte. War es nicht seine Mannes- und Menschenpflicht, dieses ernste, nachdenkliche, einsame Mädchen mit den geheimnisvollen Augen zu ergründen und sie, wenn sie war, was er hoffte und ahnte, notfalls der ganzen Welt abzuringen und abzutrotzen? Sie kam ihm mit so schlichtem Vertrauen, mit so einfacher Herzlichkeit entgegen, als verlange sie eben nur, sein guter Freund, sein treuer Kamerad, sein einziger oder doch sein liebster Vertrauter zu werden, und als werde sie es ihm mit der schrankenlosesten Hingebung lohnen, wenn er sie aus ihrer beängstigenden, tödlichen Vereinsamung erlöste — und er sollte noch auf eine andere Stimme hören, als auf die seines Herzens? Aber freilich — war sie denn auch wirklich das, wofür er sie hielt? Er hatte nie zu den liebebedürftigen oder auch nur eitlen jungen Männern gehört, die keine vierundzwanzig Stunden ohne irgend ein kleines „Verhältnis“ zu existieren vermögen, und wenn er die Frauen auch nicht gerade mied, so hatte er sie doch noch weniger gesucht, aber dennoch hatte er schon mehreremal die mehr beschämende als betrübende und zuweilen sogar komisch wirkende Erfahrung zu machen gehabt, daß idealistisch gestimmte junge Männer nur allzu geneigt sind, sich allerlei in ein schönes Mädchen und in ein Lockenköpfchen mit weißer Stirn hineinzuträumen und hineinzudenken, das in Wirklichkeit nur in ihnen selber existiert und das die zart Verehrte nicht einmal verstehen würde, wenn man zu ihr davon spräche, oder doch sehr — weiblich auffassen würde. Dazu kam, daß er eine sehr hohe Meinung von dem angeborenen Schauspielertalent der Frauen hatte und dasselbe für einen Faktor hielt, den man stets mit in Rechnung stellen müsse, wenn man nicht Gefahr laufen wolle, sich gründlich zu verrechnen. Es lag dieser Ansicht keine Spur von Geringschätzigkeit und Feindseligkeit zu Grunde und er pflegte zu sagen, daß nichts selbstverständlicher, natürlicher und verzeihlicher sei, als jene Thatsache. Die Frauen würden von zartester Jugend auf zur Heimlichkeit, zum Verschweigen ihrer Gedanken, zum Verbergen ihrer Empfindungen planmäßig erzogen, und man suche ihnen die Ueberzeugung beizubringen, daß gar vieles, wofür ein junger Mann Lob verdiene, bei ihnen ein tadelnswerter und sich bitter rächender Verstoß sei. Es sei ihnen nicht erlaubt, wahr zu sein, und diese Erziehung zur Heuchelei sei um so gefährlicher, je leichter sich ohnedies schon bei den Schwachen als Waffe der Notwehr gegen den Starken die List ausbilde. Berücksichtige man, daß die Liebe der eigentliche Lebensberuf der Frau sei, daß sie ihre Bestimmung nur innerhalb der Ehe erfüllen könne, daß die Zeit, innerhalb deren die frische Jugendblüte ihr für diesen Kampf ums Dasein eine Chance gebe, nicht lange währe, daß der beschränkte Gesichtskreis der Frau ihren Blick für das Naheliegende naturgemäß wunderbar schärfe, so erkläre sich die Ueberlegenheit und der Scharfblick der Frau in allem, was mit der Liebe zusammenhänge, vollständig, und die Partie gegen eine

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_42.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)