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Wolfgang sah das Mädchen mit einem raschen Blicke an, vor dem sie das Auge nicht niederschlug, und sagte dann mit dem Tone, den er, wie es schien, nur für sie hatte:

„Nie war eine Versicherung überflüssiger. Ich will mich keines besonderen physiognomischen Scharfblicks rühmen, aber wenn ich vorhin aufgefordert worden wäre, sofort eine Charakteristik von Fräulein Hoyer zu liefern, so würde ich keinen Moment geschwankt haben, sie zu allernächst als verschwiegen zu bezeichnen.“

Das war gewiß kein ausschweifendes Kompliment, aber diese Worte machten das schweigsame Mädchen dennoch sehr glücklich, und es leuchtete flüchtig in ihren Augen auf, als sie ganz einfach und dennoch mit einem gewissen ruhigen Stolze erwiderte:

„Das Gegenteil ist so häßlich und unwürdig, daß ich die Verschwiegenheit als etwas sehr Selbstverständliches ansehe, über das niemand ein Wort verlieren sollte.“

„Sie haben ganz recht, aber haben im Grunde nicht alle unsere guten Eigenschaften nur dann einen Wert, wenn sie uns als selbstverständlich erscheinen?“

„Ich halte es für eine Ihrer besten Eigenschaften, ein Stück Poet zu sein,“ warf lächelnd Frau v. Larisch dazwischen, „und werde mich bemühen, es als „selbstverständlich“ anzusehen, daß Sie sehr schöne Verse machen. Es ist mir auch gar nicht merkwürdig; meine früheren Fragen sind Bürge dafür; irgendwo mußte der Künstler zum Vorschein kommen.“

„Was die Verse anlangt, so würde ich Ihnen doch raten, sich jedes Vorurteils zu enthalten; übrigens ist es noch nicht einmal selbstverständlich, daß jemand, der ein geborener Poet ist, auch wirkliche Verse macht. Es giebt große Dichter, die nie zwei Zeilen gereimt haben, und so mancher junge Lyriker, der sich eifrig bemüht, den Berg der Sonntags-nachmittags-Lyrik (mit Goldschnitt) noch um ein paar Zoll zu erhöhen, hat auch nicht einen Funken Poesie in der Seele. Alles kommt darauf an, ob jemand im stande ist, sein Leben poetisch zu gestalten und es ganz mit Poesie zu sättigen und zu durchtränken, und das haben sehr viele Dichter von anerkanntem Ruf nicht gekonnt — ihr ganzes Leben ist so langweilig und staubig wie eine Chaussee durch märkischen Kieferwald, auf der man unablässig bis an die Knöchel im Sande versinkt.“

Es wäre ihm sichtlich angenehm gewesen, dieses Thema weiter ausspinnen zu können, schon um der beiden großen, fast schwarzen Augen willen, die selbstvergessen und mit einem höchst beredten Ausdruck von Spannung, Zustimmung und freudiger Ueberraschung an seinen Lippen hingen, aber der Kommerzienrat, der inzwischen mit seinem Töchterchen geplaudert hatte, fuhr mit einer Frage sehr verschiedener Natur dazwischen, und das einmal abgerissene Gespräch ließ sich später nicht wieder anknüpfen, um so weniger, als sich jetzt auch Fräulein Emmy wieder in ihrer munteren, oberflächlichen Weise an demselben beteiligte und allerlei über England zu wissen begehrte. Das Gespräch spann sich so in Form eines an Sprüngen reichen Geplauders weiter, und ab und

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_40.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)