Seite:Ein verlorener Posten 35.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

hübscher, als ich es je gewesen?“ Von dem fast unausrottbaren Frauenvorurteil, daß man jung und schön sein müsse, um einem Manne zu gefallen, war auch sie nicht frei, wennschon sie zu der Meinung neigte, diese Eigenschaften seien nur deshalb nötig, weil man ohne sie nicht so viel Interesse zu erwecken vermöge, daß ein Mann es der Mühe wert halte, auch den seelischen Eigenschaften der gewinnendhen und gefälligen Erscheinung nachzuforschen. Sie legte sich jedoch über ihre Empfindungen keine Rechenschaft ab; sie war es so sehr gewöhnt, übersehen oder doch nur zum Gegenstand von Huldigungen gemacht zu werden, gegen die ihr feines Gefühl sich auflehnte und die ihr klarer Verstand und ihr gebildeter Geschmack komisch und lächerlich fanden. Sie hatte sich wohl in jungen Jahren in einsamen Dämmerstunden ein Bild von dem Manne gemacht, den sie rückhaltlos lieben könnte und sich dann immer gesagt, daß er nicht hübsch und elegant zu sein brauche — nur viel klüger als sie selber müßte er sein, so daß sie bewundernd zu ihm aufsehen konnte, so klug, daß er im stande war, ihr alle die Fragen zu beantworten, die sich ihr aufdrängten, und ein warmes Herz für die Natur mußte er haben. Ab und zu hatte wohl im Gewühl der Menschen ein Laut an ihr Ohr geschlagen, von dem sie in frohem Schreck wähnen konnte, daß er aus ihrer Traumwelt käme; aber im nächsten Moment war er verklungen und verweht, von einer Fülle kalter, fremder Laute erstickt — und wie sie auch verhaltenen Atems lauschte, der liebe Laut kam nicht wieder. Und sie wäre doch so glücklich gewesen, hätte sie einmal einen Mann gefunden, den sie lieben konnte, und die Frage, ob sie seine Gegenliebe zu wecken wußte, stand erst in zweiter und dritter Linie. Sie hatte sich endlich in Müdigkeit und Trauer davon zu überzeugen gesucht, daß sie einem Schemen nachjage, daß es keine Männer gebe, die ihrem Traumbild entsprächen und daß sie also wohl niemals lieben werde — sie wußte, daß es zwischen ihrem Herzen und der Wirklichkeit keine Möglichkeit eines Kompromisses gab und daß sie unfähig war, sich mit einem Surrogat zu begnügen oder gar eine Verstandesehe zu schließen. Und nun stand plötzlich das Urbild all ihrer scheuen, geheimen Träume verkörpert vor ihr, und selbst die äußeren Eigenschaften, die sie ihn, ohne Bedauern erlassen hätte, fehlten nicht. Ihr nächstes klares Gefühl war das tiefer Genugthuung.

So hatte sie also doch recht gehabt, so war es doch keine thörichte, sentimentale, romantische Mädchengrille gewesen, von der sie sich hatte beherrschen und leiten lassen, und ihr dunkles, aber unabweisbares Gefühl hatte ihr den rechten Weg gewiesen! Sie zuckte unwillkürlich zusammen bei dem Gedanken, wie trostlos ihr zu Mute sein würde, wenn sie jetzt nicht mehr frei wäre und wenn der Blick auf den ungeliebten Gatten an ihrer Seite ihr verböte, in verschwiegener Seele diesen jungen Mann mit den klaren Augen und der gewinnenden Stimme rückhaltlos und freudig zu bewundern. Das wenigstens konnte ihr ja niemand wehren, wenn ihr auch der Gedanke, ihm näher zu treten, so fern lag. So hatte sie oft darüber getrauert, daß sie weder eine Sprache,

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_35.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)