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sich nun genötigt, eine der ihm am meisten verhaßten, rein konventionellen Visiten zu machen! Zudem war seine ganze Natur so sehr auf Klarheit und inneren Einklang gerichtet, daß alles Verworrene, Unklare, Widerspruchsvolle und Zwiespältige ihn peinigte — und in ihm herrschte Zwiespalt. Er konnte sich nicht verhehlen, daß auf dem Grunde seiner Unruhe und seines Unmuts eine geheime, scheue Freude darüber lag, daß er die Dame wiedersehen sollte, die er unter so eigentümlichen Verhältnissen kennen gelernt hatte; wäre er minder darin geübt gewesen, den Schleichwegen des eigenen Herzens nachzugehen und seine tausend kleinen Listen sich zu enthüllen, so würde es dieser Freude wohl gelungen sein, sich ihm zu verbergen, ihm seinen eigentlichen Gemütszustand zu verschleiern und ihn über denselben zu täuschen. Genug, Wolfgang war nicht so ruhig, wie sonst, als er sich beim Kommerzienrat melden ließ; dieser war über die „romanhafte“ Idee der jungen Witwe womöglich noch verdrießlicher, als vorher, denn Wolfgangs Besuch fiel unglücklicherweise auch noch mit einem solchen des Landrats v. Wertowsky und seiner adelsstolzen Gemahlin zusammen, und es war wohl zweifellos, daß die letztere sich in ihrer spitzen, beißenden Weise über die Leute mokieren würde, die man bei ihm zu treffen Gefahr liefe. Für Wolfgang und Martha dagegen war die Anwesenheit dieses Besuchs eine willkommene; sie half ihnen über die Klippe hinweg, die darin lag, daß sie einander vorgestellt werden sollten und sich doch schon kannten, und daß beide nicht wußten, ob sie jene Begegnung erwähnen oder ganz mit Stillschweigen übergehen sollten. Nun vollzog sich die Vorstellung in flüchtigster und formellster Weise, und es gehörte Frau v. Larischs scharfes Auge und ihr weiblicher Scharfblick dazu, zu erkennen, daß die beiden sich ihrer älteren Bekanntschaft voll bewußt waren und sich zu sagen schienen: „Lernen wir uns auch zum Schein jetzt erst kennen, so wird doch innerlich dieser Abend nur eine Fortsetzung unserer ersten Begegnung sein.“ Im nächsten Augenblick sah sich Wolfgang vom Landrat in Anspruch genommen, für den er eine willkommene Erlösung von banalem Frauengeplauder und von des Kommerzienrats eben nicht sehr geistreicher Unterhaltung war. Der Landrat, einer von jenen, preußischen Beamten, deren Gesichter eine so große Familienähnlichkeit haben, war ein unterrichteter Mann und der junge Fremde und sein freies, offenes, unbefangenes Wesen sprachen ihn an. Dennoch war er zu sehr Preuße und ehemaliger Offizier, um nicht das Gespräch mit der Frage einzuleiten, ob Wolfgang gedient habe. Dieser erwiderte einfach, daß er allerdings gedient oder besser einen Feldzug mitgemacht habe, aber nicht unter den schwarz-weißen, sondern unter den schwarz-gelben Fahnen, und der Landrat, der keinen Anflug von österreichischem Dialekt bei ihm entdecken konnte, versetzte ihn, neugierig geworden, in die Notwendigkeit, zu erzählen. Wolfgang war ein geborener Sachse, aber durch seine Mutter, eine Süddeutsche, früh in gemütliche Beziehungen zu Oesterreich gebracht worden, die sich nach und nach unter dem Einfluß historischer Studien zum Großdeutschtum ausbildeten. Er

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_31.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)