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sein soll. — Da hast lange auf einen Brief zu warten gehabt, nun kommt er aber auch in wohl ungeahnten Proportionen, und ich habe Dir so viel Gelegenheit zu kritischen Randglossen gegeben, daß Du nicht umhin können wirst, mir eine Strafrede im Stile derer zu halten, die ich stets mit rührender Geduld angehört und mit unbeugsamer Konsequenz nicht beachtet habe, ein Umstand, der Dir nur immer noch lieber machen zu wollen schien Deinen unverbesserlichen Wolfgang.

So glatt, als unser junger Freund gewähnt, sollte die Sache aber doch nicht ablaufen. Noch war keine Woche seit dem Abend verstrichen, an dem die Damen im Boudoir plauderten und Wolfgang an seinen einzigen Freund in England schrieb, als ihm die Nutzlosigkeit seines Ausweichens in unerwarteter Weise nachgewiesen ward. Er hatte seinem Chef eine Anzahl Briefe zur Unterschrift in dessen Privatcomptoir gebracht, als dieser mit einer gewissen steifen und von ihm für würdevoll gehaltenen Förmlichkeit die Aufforderung an ihn richtete, an einem der nächsten Abende eine Tasse Thee bei ihm einzunehmen. Je schwerer ihm die Notwendigkeit einer solchen Einladung, die ihm von Frau v. Larisch vorgestellt worden war, eingeleuchtet und je mehr Ueberwindung es ihn gekostet hatte, aus Artigkeit gegen diese eine private Berührung zu vermitteln, die er für durchaus unstatthaft hielt, desto mehr pikierte ihn die ruhige Gelassenheit, mit der Wolfgang diese Gunst aufnahm. Statt in freudige Verwirrung zu geraten, erwiderte jener mit einer artigen Verbeugung, daß er für den kommenden Abend verhindert sei, jedoch nicht verfehlen werde, den Damen am nächsten Abend seine Aufwartung zu machen, und schien sehr wenig von der gönnerhaften Herablassung seines Chefs gerührt zu sein. Herr Reischach hielt es für angezeigt, dem jungen Manne zur richtigen Würdigung der Bevorzugung zu verhelfen, die ihm durch die Einladung widerfuhr, und er fügte also hinzu, daß die jungen Leute in seinem Comptoir aus notwendigen gesellschaftlichen Rücksichten bisher nie in seine Familie eingeführt worden seien, daß er aber gemeint habe, zu Gunsten seiner eine Ausnahme machen zu müssen. Wolfgang erwiderte mit leichter Ironie, daß er zu viel Welterfahrung besitze, um in der freundlichen und von ihm nicht erwarteten Einladung mehr als die Beobachtung einer Förmlichkeit zu sehen, und daß er die Zeit der Damen sicher nicht ungebührlich in Anspruch nehmen werde, und der Kommerzienrat, den diese Antwort etwas außer Fassung brachte besann sich nicht früher auf eine den Umständen angemessene Replik, als bis Wolfgang an seinen Platz zurückgekehrt war. Der Kommerzienrat war in diesem Augenblick sehr unzufrieden mit sich selber und noch unzufriedener mit Frau v. Larisch, ja auch mit Emmy und Martha, denn die junge Witwe, die ihn so ziemlich zu allem zu bringen verstand, hatte ihn absichtlich im Zweifel darüber gelassen, ob sie nur für sich selber sprach oder die Wortführerin für das weibliche Kleeblatt machte.

Auch unser Freund Wolfgang befand sich durchaus nicht in rosiger Stimmung; er mied neue Bekanntschaften planmäßig, suchte sich nach Kräften aller gesellschaftlichen Verpflichtungen zu erwehren und sah

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_30.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2019)