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einem nahen Quell tauchte sie ihr Taschentuch ein und wickelte es um die Hand, die nur ein paar Hautabschürfungen zeigte, so das; ich mein kleines Etui mit englischem Pflaster vergebens hervorgezogen hatte. Mir waren darüber in den Wald gelangt und standen sehr bald vor einer Parkpforte; sie besaß den Schlüssel zu derselben, gab mir unbefangen und mit einem nochmaligen Dankwort für meinen „Beistand in der Not" die Hand, die Pforte fiel hinter ihr ins Schloß und im nächsten Augenblick war sie unter den Bäumen verschwunden. – Ich bin ziemlich nachdenklich nach Hause gegangen; war es mir, als ich an der Seite der Dame dahinschritt, doch gerade gewesen, als seien wir genaue Bekannte und gute Freunde von altersher. Es ist schon viel, wenn sich nichts Individuelles zwischen Mensch und Mensch drängt, noch viel wertvoller und seltener aber ist es zweifelsohne, wenn bei einer neuen Bekanntschaft der Geschlechtsunterschied sich nicht störend geltend macht; hier war es so, und ich hatte von unserer kurzen und naturgemäß nicht hervorragenden und keineswegs „geistreichen" Unterhaltung nur den Eindruck empfangen, als hätte ich wieder einmal einen Menschen entdeckt und eine der meinen nahe verwandte Natur. Und doch war der ganze Vorfall so sehr angethan, mich daran zu erinnern, daß ich eine Dame vor mir hatte! Eine Personalbeschreibung wirst Du mir erlassen: sie müßte erstens sehr dürftig ausfallen, und dann war die Dame keinesfalls jünger als ich, eher älter, und der lange Alfred hätte schon einer ungewöhnlichen Anstrengung seiner lebhaften Phantasie bedurft, um in ihr eine Juno zu entdecken. Was mich für sie gewann, waren ihre großen, dunklen, sanften Augen und ihre weiche, tiefe Stimme, der Eindruck von Reife, Klarheit, Klugheit und Milde, den ihr ganzes Wesen machte, und die Abwesenheit jeder Spur von alltäglicher weiblicher Koketterie; ich wünschte, ich hätte mir aus innerer Ueberzeugung sagen können, sie sei eine Art Wolfgang, nur ins Weibliche übersetzt.

Wie ich über alte Mädchen denke, weißt Du, und es ist ein wahres Glück, daß ich von Dir keinen Verrat dieser ungewöhnlichen Liebhaberei zu fürchten habe; würde die Thatsache ruchbar, so bekäme ich alle „unverstandenen" alten Jungfern der vereinigten Königreiche von Großbritannien und Irland und den ganzen Vorrat des deutschen Reichs an dieser Sorte über den Hals, d. h. nur die ungenießbaren, denn die liebenswürdigen sind nicht so zudringlich, aber jener ist manches wohlgezählte Tausend und eine reicht hin, den Phlegmatischsten und Gutmütigsten um das letzte Restchen von Geduld zu bringen. Ich schwärme ja auch nicht für die erbitterten, affektierten alten Jungfern, die sich um jeden Preis noch an den Mann bringen möchten, sondern für jene gealterten Mädchen, deren liebliche Jugendblüte dahin ist, die man halb ironisch, halb mitleidig als „passée" charakterisiert und die doch so achtungswert sind und für mich allezeit etwas Rührendes haben. So unliebenswürdig, d. h. so unweiblich ist doch selten eine, daß sich ihr wenigstens nicht einmal im Leben Gelegenheit geboten hatte, den Titel Frau zu erwerben; wenn sie nun zu tief und innerlich war, als daß sich

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_27.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)