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der im Sommer ganz reizend sein muß und bin nur neugierig, welchen von ihnen ich mir schließlich zum Lieblingsplätzchen erwähle. Als ich vor einigen Tagen, eben erst aus dem Walde getreten, in der Dämmerung den Hang hinabstieg, der zu Thal führt, gewahrte ich in dem tiefeingeschnittenen Hohlwege, der diesen Hang auf halber Hohe kreuzt, eine Viehherde und auf der ziemlich steilen Böschung dieses Hohlwegs eine Dame, die sich, von einem lichtgrauen Stier bedrängt, dorthin geflüchtet haben mußte. Die Sache war kaum ernst zu nehmen, am wenigsten faßte sie der kleine schmutzige, zerlumpte Treiber so auf, den die Angst der Dame, die sich mit der linken Hand an Brombeerranken festhielt, aber durch das dichte Gestrüpp verhindert war, sich einen Weg auf die Höhe zu bahnen, königlich zu amüsieren schien; er lachte im ganzen Gesicht und zeigte die großen, weißen Zähne. Ich war rasch bei der Dame — siehst Du, etwas Ritterlichkeit steckt doch noch in Deinem Freund! — trat das Gestrüpp notdürftig nieder, öffnete ihr so einen schmalen Pfad auf die Höhe, wobei freilich die Volants (heißen die Dinger so?) ihres Kleides nicht zum besten wegkamen, reichte ihr die Hand und zog sie mit einiger Anstrengung hinauf. Der kleine Hirt ließ sich durch ein paar barsche, drohende Worte einschüchtern, trieb seinen unternehmenden grauen Stier mit einigen Peitschenhieben weg und bald war die leichte Staubwolke, die sie aufwirbelten, unseren Blicken entschwunden. Die Dame (ich sah eigentlich jetzt erst, daß sie noch nicht alt war; Du wirst nicht bezweifeln, daß ich zu Gunsten des steinältesten Mütterchens gleich eifrig interveniert hätte) befand sich infolge der überstandenen verzeihlichen Angst in sichtlicher Aufregung, und es währte einige Augenblicke, bis sie mir für meinen Beistand danken konnte. Sie that es in einiger Verlegenheit, aber doch mit einem Lächeln, und versicherte, daß sie sonst durchaus nicht furchtsam sei, nur vor Rindern habe sie eine heillose Angst und gehe ihnen so weit als möglich aus dem Wege. Von einem Spaziergang auf den Berg zurückkehrend, habe sie, bereits in dem ziemlich langen Hohlweg, zu spät bemerkt, daß die Herde hinter ihr sei und durch die Beschleunigung ihrer Schritte, die wohl in Flucht ausgeartet sein mögen, habe sie vielleicht erst die Verfolgung durch den Leitstier auf sich gezogen. Ich konnte ihr wahrheitsgemäß versichern, daß mir die Hörnerträger in Form eines guten Beefsteaks ebenfalls lieber seien, als in ihrem Naturzustande und erzählte ihr, daß wir, obgleich Feuerwehrleute, erst kürzlich, als wir bei der Einfahrt durch ein überwölbtes Gehöftthor von den in Wut und Angst vor den Flammen flüchtenden Ochsen und Kühen überrascht wurden, unsere Spritze stehen ließen, und uns klüglich so flach als möglich an die Wand drückten, bis die wilde Jagd vorüber war. Während dieser Erzählung hatte ich bemerkt, daß der linke Handschuh meiner bereits wieder ziemlich gefaßten Geretteten arg zerscheuert und von Dornen zerrissen, ja sogar etwas blutig war. Die Hand schmerzte etwas, wie sie mir nun gestand; sie gestattete mir ohne Ziererei, den Handschuh vorsichtig abzuziehen und ich steckte ihn mechanisch in eine Seitentasche meines Ueberrocks; an

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_26.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)