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einer längeren Erkrankung mit all ihrer Gutmütigkeit annahmen und das ihnen nun eine große Anhänglichkeit und Dankbarkeit widmet, die eine verzweifelte Aehnlichkeit mit einer Liebesneigung hat; ich weiß nicht so recht, ob es eine Milderung oder eine Erschwerung ist, daß die Kleine im Banne einer Doppelneigung zu stehen scheint. Ob sie dem langen oder dem kurzen Alfred den Vorzug giebt, ist schlechterdings nicht zu erkennen. Das Verhältnis ist unleugbar ein ungesundes und gewagtes, da keiner von den beiden eingestandenermaßen daran denkt, die Kleine zu heiraten, und im Interesse aller läge ein rascher, scharfer, wenn auch schmerzhafter Schnitt, der diese Verbindung löst; hätte ich mir nicht so fest vorgenommen, mich nicht in anderer Angelegenheiten zu mischen, so könnte ich wohl aus purer Menschenfreundlichkeit in die Versuchung geraten, das arme junge Ding einmal in milder Weise ins Gebet zu nehmen und ihr über die ganze verwickelte und unklare Affaire reinen Wein einzuschenken; sie würde wohl zur Besinnung kommen, wenn ihr die Gefahren dieses „geschwisterlichen“ Verhältnisses überzeugend nachgewiesen würden.

Viel näher liegt es mir freilich, mich mit mir selber zu beschäftigen und mit der dermaligen Verfassung des unruhigen Muskels, den wir übereingekommen sind, „Herz“ zu nennen. Die Einleitung klingt gewiß nicht poetisch und romantisch, aber wer kann dafür, daß wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts so unbarmherzig genau darüber orientiert sind, daß das Herz ein einfaches Pumpwerk ist, das uns das Blut durch die Adern treibt, daß es nicht Sitz und Urheber unserer Liebesneigungen ist, sondern lediglich von ihnen beeinflußt wird? Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie Du überrascht aufhorchst; in den Jahren unseres Beisammenlebens bist Du von mir gerade nicht mit Leidenschaften und Abenteuern inkommodiert worden und hast meine Unempfindlichkeit Frauen gegenüber so manches liebe Mal kopfschüttelnd eine Anomalie genannt. Nun, es hat auch diesmal keine Gefahr. Dem langen Alfred, für den ja solche Kindereien kaum erwähnenswert sind, würde ich natürlich von dem kleinen Abenteuer gar nichts erzählen, ganz abgesehen davon, daß ich in diesem Punkte sowohl instinktiv als aus Princip unerbittlich verschwiegen bin, am meisten dann, wenn mich etwas tief und nachhaltig berührt. Hörst Du also nichts wieder über die Dame, von der ich Dir zum Schluß noch erzählen werde, so nimm immerhin an, daß sich beunruhigende Symptome gezeigt haben und daß ich tiefer und tiefer in den duftigen Irrgarten geraten bin — ich spreche so ruhig über diese bedenkliche Alternative, weil sie mir sehr, sehr unwahrscheinlich vorkommt, aus Gründen, die auch Dir vollständig einleuchten werden. Und nun vernimm meine Beichte und lache mich dann aus, wenn Du magst und — kannst.

Du bist so oft — in Scherz und Ernst — wider meine Gewohnheit, einsam umherzustreifen, zu Felde gezogen, daß es Dich nicht wundern wird, wenn ich Dir berichte, ich sei dieser Gewohnheit auch hier treu geblieben. Ich habe auf waldiger Höhe bereits so manchen Punkt entdeckt,

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_25.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)