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Grundsätzen geleitet und geht nicht auf den Ruin der Opfer seiner überwältigenden Liebenswürdigkeit aus — er ist damit zufrieden, ihnen einen Tribut in Form eines Kusses aufzuerlegen und über den leichten Grad von Immoralität, der auch hierin liegt, weiß er sich durch die Erwägung hinwegzusetzen, daß dem Glück gegenüber, von dem hübschen, schlanken Sonettendichter Paul geliebt worden zu sein, ein so kleines Opfer gar nicht in die Wagschale fallen dürfe, und daß im äußersten Falle jede einzelne eine ansehnliche Zahl von Leidensgefährtinnen habe, mit denen sie sich trösten könne.

Im übrigen singt er recht hübsch, interessiert sich lebhaft für die schöne Litteratur und hat in ästhetischen Dingen ein gesundes Urteil; ich plaudere ganz gern mit ihm, und wenn er jeder Dame, die das zweifelhafte Glück genoß, seine Aufmerksamkeit zu fesseln, ein überschwängliches Beiwort verleiht, wenn er die eine eine Juno, die zweite eine Diana, die dritte eine Madonna, die vierte eine reine Elfe sein läßt, so lacht man ihn eben herzhaft aus. Er hat die Schwäche, jedem recht zu geben — nur in zwei Punkten hat er seine eigene, unbeugsame Meinung. Als (selbstverständlich materialistischer) Naturforscher hat er einen wahren Haß wider alles, was Religion heißt und speciell gegen das Christentum, und wenn jemand Richard Wagner für einen Musiker hält, so kann er wild und bitter werden.

Der andere Alfred ist eines Kommerzienrats Sohn, Doktor durch die kostspielige Gnade der Universität Jena und obendrein Reserveoffizier, welcher letztere Umstand ihn jedoch nicht hindert, den viel verheißenden Bauch fast demonstrativ vor sich her zu schieben und sehr gewaltsam mit den Armen zu schlenkern. Er ist ein reines Kind, d. h. gutmütig, lenksam und launenhaft. Wie schon das Vorhandensein eines Bauches andeutet, ist er ein eingefleischter Gourmand, hat die Geheimnisse der edlen Kochkunst mit Liebe und Fleiß ergründet und fühlt sich sichtlich gehoben, wenn er als Koch funktionieren kann; seiner Hochachtung für den langen Alfred thut nur der einzige Umstand Abbruch, daß dieser zwischen Schöpfenbraten und Truthahn keinen Unterschied zu machen vermag und einem Hummer in vollständiger Ratlosigkeit gegenübersitzt. Der Brave pflegt sich, wenn wir uns in philosophische oder litterarische Gespräche vertiefen, ganz heimlich fortzustehlen oder sich auf dem Sofa auszustrecken, und sehr bald dokumentiert er den Grad seiner Anteilnahme an unseren tiefsinnigen Untersuchungen durch ein herzhaftes Schnarchen. Es existiert keine einigermaßen „niedliche“ Kellnerin oder Verkäuferin im Städtchen, die nicht unter seiner Protektion stünde und die er nicht mit dem vergnügtesten Lächeln, mit zarten Aufmerksamkeiten und duftigen Blumenspenden beglückte. Ein wahres Theater führen die beiden gemeinsam mit ihrer „kleinen Anna“ auf, einem jungen Mädchen, das sie bei einer alten Verwandten, bei der beide wohnten, in dem halb lächerlichen, halb bemitleidenswerten Uebergangsstadium zwischen Kind und Jungfrau kennen lernten, das von der grilligen Alten schlecht behandelt ward, dessen sie sich während

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_24.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)