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„Sonstige Bekanntschaften gemacht?“ fragst Du. Leider ja. Ich habe die ersten Tage im Gasthof essen müssen, und wenn ich auch entschlossen war, mir die Leute, mit denen ich an der Tafel zusammenkam, zehn Schritte vom Leibe zu halten, so hatte ich dabei ohne die desparate Hartnäckigkeit gerechnet, mit der gesellschaftsbedürftige Menschen, die in kleinen, toten Städten leben müssen, jeden einigermaßen gebildeten Menschen attakieren, der ihnen aufstößt, und ohne die Liebenswürdigkeiten, mit denen sie ihn überschütten. Sei noch so ablehnend und lakonisch, sie machen Dich mürbe und es ist rührend, wie sie Dir alles an den Augen abzusehen suchen. So ist es mir denn mit zwei Chemikern gegangen, die in den beiden unweit der Stadt gelegenen Zuckerfabriken arbeiten, seltsamerweise auch beide Alfred heißen und dem „ewig Weiblichen“ zeitlebens unterthan sein werden. Im übrigen sind sie die reinen Antipoden; der eine Alfred ist lang und schlank und ziemlich blaß, trägt eine sehr scharfe Brille, vor die er oft auch noch den Klemmer hält, ist stets säuberlich rasiert und in seinem ganzen Wesen ruhelos, unstet, beinahe zerfahren; er hat in Prima eine Anzahl Sonette verbrochen und erwärmt dieselben, und namentlich die überaus originelle Wendung:

„Wie eine Rose trittst Du mir entgegen“

so oft, daß man in Zweifel gerät, ob er wirklich nur bestrebt ist, sich selbst zu ironisieren oder ob ihm die Thatsache, daß er Sonette zu schmieden versteht, nicht doch vielleicht überaus mitteilungswert erscheint und geeignet, ihn in eine interessante Beleuchtung zu rücken. Er hat, ohne Humor zu besitzen, eine höchst drollige Art, kindliche, schmollende, zimperliche Accente anzuschlagen und Scharfsinn genug, einen Wortwitz zu Tode zu hetzen. Da er ein Mensch von vielseitiger Bildung und im Grunde eine wackere Natur ist, so verzeiht man ihm seine erstaunliche Vergeßlichkeit und seine Unzuverlässigkeit, die so konsequent ist, daß sie zuletzt nur noch komisch wirkt. Hat man sich für 8 Uhr abends mit ihm versprochen, so kommt er im günstigsten Falle um 9 Uhr angaloppiert, wie eine von Leoparden verfolgte Giraffe, wirft sich erschöpft und schnaufend in einen Stuhl und hat die allertriftigste Entschuldigung in petto. Darf man seinen Versicherungen Glauben schenken, so beträgt die Zahl der von ihm bisher überstandenen Liebschaften dreiundzwanzig, wobei kleine Plänkeleien selbstverständlich nicht mitgerechnet sind, und er gefällt sich darin, die Sache so darzustellen, als sei es sein Fluch und eine große Unbequemlichkeit für ihn, allüberall die armen Mädchen magnetisch an sich zu ziehen; er giebt sich gar keine Mühe um sie, er ärgert sich über seine Schwäche, sich nicht zu kühler, artiger Ablehnung aufraffen zu können, aber wenn sie ihm entgegenkommen, dann erwacht in seinem weichen Herzen das Mitleid und „halb zog sie ihn, halb sank er hin“ und ein Kuß bildet das Finale. Diese eigentümliche Spielart der Gattung „Don Juan“ (ich vergaß ganz zu sagen, daß er ein recht hübscher Bursche ist, der dem Geschmack der Frauen, wie sie durchschnittlich sind, ganz gut entspricht) ist nämlich von sehr moralischen

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_23.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)