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Beruf immer fleißig sein und Du sollst frei Deinen Neigungen und Ueberzeugungen leben. Wirst Du nicht, die Anschauungen, die Du für die richtigen hältst, mit Wort und Feder ganz anders vertreten können, wenn Du in der Lage bist, überall eingehende Studien zu machen? — So ungefähr denke ich mir Deine Zukunft; Du wirst so unendlich mehr nützen und Dir selbst ein ganz anderes Genügen bereiten können.“

Wolfgang hatte erst den Kopf geschüttelt, nun aber sagte er rasch und froh, fest und entschieden:

„Wohlan, das ist die beste Rache! Dieses Geld, in das sich der Schweiß und das Mark einer verkommenden Arbeitergeneration verwandelt hat, soll die große Emancipationsarbeit des Arbeiterstandes unterstützen, und ich will mir durch dasselbe die Freiheit von äußeren Fesseln nur erkaufen, um freiwillig in den Dienst dieser großen .Kulturbewegung zu treten, die allerlei Geister, jeder an seinem Platze, zu verwenden vermag. Aber — da fällt mir ein, daß wir doch vielleicht eine kleine Rache an unserm Herrn Kommerzienrat nehmen könnten.“

Er nahm ein Blatt, schrieb mit einem Lächeln die folgenden Worte:

10. 1. 74.

„Ihre heute erfolgte Verlobung und ihre gleichzeitig erfolgte Abreise nach .... beehren sich Ihnen anzuzeigen“ — und schob es dann Martha hin, die mit zustimmendem Nicken ihren Namen darunter setzte; dann fügte er den seinigen hinzu, füllte die Lücke durch „London“ aus und adressierte ein Couvert an Herrn Kommerzienrat Reischach, Ritter etc.

„Die paar Worte sind einstweilig genug, —- und nun ist das Abschiedsgedicht an Dich, das ich heute abend ersonnen habe, doch nicht das letzte gewesen, was ich in diesen Räumen schrieb.“

„Gieb mir die Verse, Wolfgang, oder lies sie mir vor!“

„Ich will sie Dir vorlesen; schwer genug wird es mir werden, aber ich habe schon eine solche Strafe verdient, und mitten in meinem Glück verlangt mich nach einer solchen Sühne!“

Als er geendet, küßte ihn Martha auf die Stirn und sagte leise: „Armer Freund, wie traurig mußt Du gewesen sein und wie mußt Du gelitten haben! Aber nun ist ja alles, alles überstanden.“

„Und wir müssen nun auch gehen, da ich Dich doch erst noch einmal zu Frau Meiling führen muß, und Krone und Anna und wohl noch einige andere auf dem Bahnhof sein werden; wir wollen sehen, daß wir ihnen zuvorkommen können.“

Frau Meiling kam denn auch auf Wolfgangs ersten Ruf, und als ihr junger Mieter ihr in heiterstem Ton und doch mit bewegter Stimme seine Braut vorstellte, die er „der Kürze halber und da er sich doch nicht wieder von ihr trennen könne,“ gleich mitnehme, da kugelten der Alten die Freudenthränen über die Wangen und sie brachte es zu keinem vorschriftsmäßigen Glückwunsch, sondern drückte den beiden nur krampfhaft die Hände.

Als die beiden auf dem Bahnhof ankamen, hatte Martha den heimlichen

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_229.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)