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dem Kommerzienrat, vielleicht ganz gelegentlich und beiläufig, einen Wink gegeben haben möge; Martha stützte sich dabei auf die Andeutungen Annas, Wolfgang dachte an das Rendezvous im Walde; man schüttelte den Kopf über das grobe kommerzienrätliche Manöver, und Wolfgang warf plötzlich die Frage auf, ob er seine Abreise nicht verschieben und am nächsten Morgen bei Herrn Reischach vorrücken solle, um ihm energisch die Wahrheit zu sagen und ihm seine ganze Verachtung ins Gesicht zu werfen. Martha schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Ja, verdient hätte er es, doppelt und dreifach, aber magst Du noch hierbleiben, wenn ich fortreise? Und mich entführt ja der Nachtzug, mein Gepäck liegt schon auf dem Bahnhof. Das hat die kleine kluge Anna besorgt, der Du nun wohl Dein freundlichstes Gesicht machen wirst - ja?“

„Gewiß, sie hat ja nun uns gerettet; aber wohin willst Du denn so plötzlich und was hast Du vor, Martha?“

„Hast Du auch bedacht, Wolfgang, ob ich nach den Enthüllungen, die Du mir gegeben hast, auch nur für Stunden in das Haus Herrn Reischachs zurückkehren kann? Ich glaube, ich müßte ersticken und mag und kann mich nicht der Gefahr aussetzen, diesen — Menschen wieder-zusehen. Er und ich — wir sind für immer geschiedene Leute und ich reise heute Nacht zu einer mütterlichen Freundin, die mir einstweilen gern ein Asyl unter ihrem Dache gewährt; es sei denn —“

Sie stockte und eine milde Röte färbte ihr Gesicht und Hals. In Wolfgangs Augen zuckte ein Strahl stolzester Freude und trunkenster Bewunderung auf und mühsam stieß er hervor:

„Es sei denn —? sprich weiter, Martha, vollende! Nicht ich, Du sollst den Satz vollenden!“

In dem Blick, mit dem Martha sein Drängen erwiderte, lag der vollste Ausdruck schrankenloser Hingabe, weltvergessender Innigkeit und gläubigsten Vertrauens. Leise und einfach erwiderte sie ihm: „Ja, ich will vollenden, mein Freund. Es sei denn — Du nimmst mich gleich mit.“

Wolfgang riß die Lächelnde und Weinende an sich, die unter seinen Küssen träumerisch fortfuhr:

„Wir haben ja beide kein Heim mehr — gehören wir nicht von Stund an zusammen und ist das Leben so lang, daß wir uns auch nur um eine Stunde des Glücks und des Beisammenseins mutwillig bringen dürften?“

„Aber hast Du auch bedacht, Martha, wie man im ganzen Städtchen über Dich sprechen wird und wie die Lästermäuler gierig über Dich herfallen werden?“

„Ich glaube das sogar noch etwas besser und genauer zu wissen, als Du, mein vorsichtiger Freund, aber sieh, auch das ist mir so gleichgültig, ich kann Dir nicht sagen, wie gleichgültig. Wenn Du mich nur achtest, was frage ich nach den übrigen Menschen? Mögen sie doch reden, wenn Du nur weißt, daß ich schuldlos bin. Die Selbstachtung, die auf dem Urteil der Menge beruht, ist ein Kartenhaus auf glattem

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_227.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)