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einen Moment sah er wie geblendet in die strahlenden Augen, bis Thränen sie verschleierten, dann legte sich sein Arm um ihren Nacken, er zog sie an sich, und mit einem einzigen jubelnden, halberstickten: „Martha!“ preßte er seine Lippen auf ihren Mund und schloß ihr dann mit diesen Lippen sanft die Lider und küßte sie wieder und wieder auf Stirn und Scheitel. Und erst nach langer, langer Zeit war er wieder soweit Herr seiner selbst, daß er ihr antworten konnte: „Er gilt noch, Martha — bis in den Tod!“

Die beiden glücklichen Menschen waren so völlig in ein gegenseitiges Anschauen versunken, daß es wohl eines sehr starken Geräusches bedurft hätte, um sie aus dieser Versunkenheit aufzuschrecken. Es gelangte nicht zu ihrer Wahrnehmung, daß Frau Meiling, der es durch einen glücklichen Zufall ganz entgangen war, daß Martha ihr Haus betreten hatte, ahnungslos die Treppe heraufgekommen war und die Thüre leise geöffnet hatte. Der Anblick, der sich ihr bot, war wohl geeignet, sie an eine Vision glauben zu machen; Martha sah, Wolfgangs Linke unter ihrem Kinn, mit leuchtenden Augen zu ihm empor, und seine Rechte strich sanft von ihrer Stirn über das reiche schwarze Haar, bis sie mit einer plötzlichen Bewegung das Gesicht an seiner Schulter barg. Das war wohl zuviel für die alte Frau, die den Atem angehalten hatte; sie schlich sich, die Thür leise wieder anlehnend, die Treppe hinab und sank in ihrer Küche auf einen Sessel; sie mußte sich den alten Kopf mit beiden Händen halten und lachte und weinte in einem Atem.

Als droben der erste Sturm des Glücks vorüber war, sagte Wolfgang fast übermütig:

„Nun laß uns aber mal vernünftig sein, Martha; wir müssen notwendig großen Kriegsrat halten, denn was soll nun werden? Ich möchte nichts beschließen, ohne den Rat meines klugen Mädchens gehört zu haben.“

„Weißt Du auch, Wolfgang, daß mir jetzt alles weitere über alle Beschreibung und alle Begriffe gleichgültig ist und daß ich lächelnd alles gutheißen werde, was Dir angemessen erscheint?“

„Wohl, Herz, aber so übers Knie wollen wir unsere Entschlüsse doch nicht brechen, und dann möchte ich doch auch wissen, ob Du gar keine Vermutung darüber hast, wer wohl den Herrn Kommerzienrat auf seinen sublimen Einfall gebracht hat. Ueberdies solltest Du Dich einmal auf diesen altehrwürdigen Divan setzen, auf dessen Lehne mein Kopf so oft gelegen hat, wenn ich mit geschlossenen Augen Verse ersann, die — an Dich gerichtet waren.“

Martha nickte ihm lächelnd zu und nahm in der Sofaecke Platz, Wolfgang rückte einen Stuhl so dicht als möglich daneben, hielt Marthas Hand zwischen seinen beiden Händen und nun kam es zu jenem wirren, aus lauter Sprüngen zusammengesetzten, mit so manchem glücklichen: „Weißt Du noch?“ durchflochtenen Geplauder, das für Dritte so unsterblich langweilig, für die beiden Beteiligten so namenlos süß ist.

Man einigte sich in der Vermutung, daß wohl Frau von Larisch

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_226.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)