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sondern Ihr Brief wäre sogar unverdient mild, versöhnlich und gütig gewesen. Ich durfte mich nicht beklagen, wenn Sie viel schärfer, bitterer und schonungsloser gewesen wären.“

Wolfgang hatte während dieser Unterredung mit verschränkten Armen am Tisch gelehnt, seine Augen hatten an Marthas Lippen gehangen und jedes Wort von denselben weggenommen, und nun überfiel ihn eine brennende Beschämung, das; er die Thränen nicht mehr instinktiv dadurch zu verbergen suchte, daß er die Augen mit der Linken bedeckte und das Gesicht auf die Sofalehne legte. Und doch konnte er das Schluchzen, mit dem er verzweifelt kämpfte, nicht ganz unterdrücken. Dieser stumme Schmerz war von einer überwältigenden Beredsamkeit, und Martha kniete erschrocken und ratlos neben ihm nieder. Im Innersten erschüttert, bemächtigte sie sich seiner schlaff niederhängenden Rechten und, ohne zu wissen, was sie that, preßten sich ihre Lippen auf diese Hand. Es ängstigte sie, ihn so hilflos zu sehen, und in ihrem fast demütigen : „Sehen Sie mich wieder an, es thut mir weh, Sie leiden zu sehen“ lag soviel leidenschaftliche Innigkeit, daß Wolfgang wie aus einer schweren Betäubung erwachte und sich langsam wieder aufrichtete. Martha trat einen Schritt zurück; seine Augen hatten allen Glanz verloren und ein düsterer, starrer Gram hatte dem erblaßten Gesicht seinen Stempel aufgeprägt. Er war nahe daran, zu taumeln, als er wieder aufstand, so schwer lag es ihm in allen Gliedern ; aber er raffte sich doch zusammen und sagte langsam und traurig:

„Verzeihen Sie mir, Sie sind ja gütig und sanft, und mit der Zeit werden Sie lernen, mir zu vergeben, was ich durch meinen Verdacht an Ihnen gesündigt habe. Ich selber werde es mir nie verzeihen, und es wäre nur eine verdiente Strafe, wenn ich jetzt doppelt trostlos von hier scheiden müßte; aber lassen Sie mir den Trost, zu wissen, daß Sie meiner freundlich und ohne Groll gedenken. Ein unseliges Geschick hat sein Schlimmstes an uns gethan; erst mußte ich glauben, mich in Ihnen getäuscht zu haben, und nun habe ich Sie so über alle Möglichkeit der Sühne hinaus beleidigt, daß ich nicht mehr den Mut habe, um einen letzten Druck der Hand zu bitten, die ich vor einer Viertelstunde zurückstieß.“

Martha aber reichte ihm nicht bloß die Hand, die er hastig ergriff und auf die er, sich tief niederbeugend, mit zuckenden Lippen einen Kuß hauchte, ohne verhindern zu können, daß zugleich ein schwerer, heißer Thränentropfen auf diese Hand fiel; sie sagte warm und beinahe heiter:

„Warum sprechen Sie noch von Sühne, mein Freund? Haben Sie denn nicht alles längst wieder gut gemacht durch den lieben, guten, schönen Brief, den Sie mir geschrieben haben und den ich schon fast auswendig weiß? Sie sollten mir lieber eine Frage beantworten, die mir gar sehr am Herzen liegt, die Frage: Gilt er noch? in allem, was mich so reich und glücklich gemacht hat?“ Wolfgang hatte sich mit einer jähen Bewegung wieder aufgerichtet

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_225.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2018)