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Er war so schön — ihm muß ich wohl verzeihen.
Ob auch für dich es ein Verzeihen giebt?
Was spricht für dich? Daß es dem Traum beliebt,
Dir launisch Würde, Wert und Reiz zu leihen?
Du warst kein Stern, nur eines Irrlichts Flimmer,
Und von gemachten Blumen war dein Kranz;
Was mich gelockt, war ein geborgter Glanz,
Der bloße Widerschein von fremdem Schimmer.

Vorbei! Ich sollte zürnen dir und grollen,
Doch immer wieder ward mein Auge naß,
Sah ich im Geiste traurig dich und blaß,
Und immer blieb's bei halbem, lauem Wollen.
Mit fester Hand greif' ich zum Wanderstabe;
Du bist mein Schicksal und du treibst mich fort,
Doch ein „Leb' wohl!“, ein mildes Abschiedswort,
Ist alles, alles, was ich für dich habe.

Er änderte und versetzte noch da und dort ein Wort, als ein kleiner Knabe ins Zimmer trat und ihm einen zusammengebrochenen Zettel übergab. Dicht ans Fenster tretend, entzifferte er mit Mühe die im Wahllokal hastig hingeworfenen Bleistiftzeilen, die ihm meldeten, daß der sozialdemokratische Kandidat die Mehrheit erlangt und fast drei Vierteile der Stimmenzahl erhalten habe, in die seine beiden Gegenkandidaten sich teilten, der Ultramontane hatte noch einige Stimmen mehr erlangt, als der Reichsfreund. Die Resultate der Wahl in den übrigen den Wahlkreis bildenden Ortschaften machten diesen lokalen Sieg selbstverständlich wieder zunichte, aber das kam ja nicht weiter in Frage und hob die moralische Wirkung jenes unerwarteten Siegs nicht auf. Ein triumphierendes, stolzes Lächeln trat auf die Lippen des Einsamen und er murmelte vor sich hin: „Also doch! Das übertrifft die kühnsten Erwartungen und bürgt für die Zukunft! Brave Leute — die Wahrheit hatte nur noch nicht den Weg zu Euch gefunden; so konnten sie Euch wohl gängeln, wie es ihnen beliebte!“ Aber seine Gedanken hafteten doch nicht lange an diesem Wahlsieg und seinen mutmaßlichen Folgen, und bald versank er wieder in sein Träumen und Sinnen. Er drückte die heiße Stirn gegen die kühlen Scheiben und sah hinaus in das lautlose, wirre Flockengewimmel, das seit kurzem die Luft erfüllte. Er hatte kein Licht anzünden mögen und tiefe Dunkelheit herrschte in dem Zimmer, das sein Fuß wohl nie wieder betreten sollte. Von Zeit zu Zeit kam, gedämpft und halb erstickt durch den Schneefall, das Krachen eines außerhalb der Stadt gelösten Böllers oder eines in den Straßen zur Feier des Wahlsiegs entzündeten „Kanonenschlags“, oder das Jauchzen und das „Hurra!“ eines kleinen Trupps von Arbeitern an sein Ohr, die ihrem Jubel Luft machten. Ihm war bei alledem so eigen zu Mute, als ginge es ihn nicht das mindeste an und als müsse er fragen, was denn eigentlich geschehen sei, welchem Ereignis dieser geräuschvolle Jubel gelte, und zwischen dem Abend vorher und der Gegenwart lag es für ihn wie eine lange, lange Zeit; er fühlte sich versucht, ungläubig mit dem Kopfe zu schütteln, als er sich daran erinnerte, daß er ja vor noch nicht vierundzwanzig Stunden auf der

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_222.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)