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Als sie eine Stunde später zögernd und befangen Marthas Zimmer betrat, fand sie diese mit Schreiben beschäftigt und sehr schweigsam und konnte sich also, was ihr sehr lieb war, nach kurzer Zeit mit der Ankündigung zurückziehen, daß sie nach Tische zu einer befreundeten Familie über Land fahren und erst spät abends zurückkommen würde.

Die ewig Muntere und Gutgelaunte hatte aber doch einen innerlich unruhigen Tag. Vielleicht war es ihre Pflicht, Martha einen Wink zu geben; aber dann hätte sie eingestehen müssen, daß sie in der ganzen Intrigue eine Rolle gespielt, und ihr Schuldbewusstsein wog eben doch schwerer als das Mitleid mit Martha. Zudem konnte sie ja irren — was ging sie auch am Ende der ganze Handel an und welche Verpflichtung hatte sie, Martha den Besitz eines Gatten zu verschaffen, dessen Neigung doch eigentlich ihr gehörte? Vielleicht hatte Wolfgang Martha nur deshalb ausgeschlagen, weil er seine unglückliche Liebe zu ihr nicht durch einen Ehebund entweihen wollte. Ueberdies kamen ihr diese Vermittlungsgedanken erst, als sie mehrere Stunden von M. entfernt war — sie konnte also gar nicht beichten und war recht sehr zufrieden damit, einen so guten Entschuldigungsgrund zu haben, der sie auch für die Zukunft gegen gelegentliche kleine Gewissensbisse schützte.

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Wolfgang hatte am selben Morgen der alten Frau Meiling eröffnet, daß er mit dem Nachtzug abreisen würde. Sie fragte, wohin es gehen solle und wann er zurückkäme, da sie nur an eine kleine Geschäfts- oder Vergnügungsreise dachte; wie war sie also betreten, als er ganz ernsthaft erwiderte:

„So ist's nicht gemeint, Frau Meiling — ich reise für immer ab und muß Sie leider wieder allein lassen.“

Aber sie glaubte noch immer halb und halb an einen Scherz und konnte nicht begreifen, wie das so über Nacht gekommen sein sollte, als aber Wolfgang mit gelassenem Achselzucken ihre Hilfe beim Einpacken seiner kleinen Junggesellenwirtschaft erbat und nicht ins Geschäft ging, sondern anfing, die Bilder von den Wänden zu nehmen und den Schreibtisch aufzuräumen, als ihr gleichzeitig von verschiedenen Nachbarinnen geschäftig erzählt wurde, was sich am Abend vorher in der Wahlversammlung zugetragen, da gingen ihr die alten Augen über und bekümmert murmelte sie vor sich hin:

„Ja, ja, die Politik! Hätte er sich lieber verliebt, dann wäre es ihm gewiß nicht eingefallen, sich in solche Händel zu mischen. Ja, die Männer, die Männer! Mein Alter war ja 1848 auch ganz rabiat und wenig hätte gefehlt, so hätten sie ihn mir weggeholt und etliche Jahre eingesperrt, und doch war er sonst ein ruhiger, verträglicher Mann, der um des lieben Friedens willen manche Fünf gerade sein ließ.“

Wolfgangs Abreise ging ihr sehr nahe; er war ihr lieb geworden wie ein eigener Sohn und sie hatte immer geglaubt und gehofft, er werde ihr Haus nur als glücklicher Bräutigam verlassen. Nun nahm das alles ein Ende mit Schrecken und jeder Hammerschlag in Wolfgangs Zimmer

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_219.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)