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vexierenden Weise Herrn Reischach mit den Vermutungen bekannt gemacht habe, die sie ja nach Annas Angaben wirklich hegte, um sich das weitere im großen und ganzen erklären zu können. Sie kannte den Kommerzienrat und wußte genau, wieviel er sich auf seine Weltklugheit einbildete, wie tief er von der dünkelhaften Ueberzeugung durchdrungen war, ein schlauer Diplomat zu sein und alles fertig bringen zu können, sie hatte sich schon mehr als einmal in die Notwendigkeit versetzt gesehen, Plänen, die er für ihre Zukunft geschmiedet und die er ihr mit großer Selbstgefälligkeit und Siegeszuversicht auseinandergesetzt hatte, aufs, entschiedenste und kategorischste zu widersprechen, und bei seiner Vorliebe für krumme Wege war es ziemlich naheliegend, daß er versucht hatte, die ihm gewordene Kenntnis in seinem politischen Interesse auszubeuten —, auf eine Lüge, das wußte sie, kam es ihm dabei nicht an, und eine edle, zarte, uneigennützige Denkungsweise oder den Stolz einer Ueberzeugung setzte er bei niemandem voraus — war es da ein Wunder, wenn er den reizbaren, empfindlichen und stolzen Wolfgang aufs tödlichste und plumpste verletzt hatte?

Sie zweifelte nicht, daß die Auskunft, die ihr Wolfgang vor seiner Abreise noch geben mußte, ihre Vermutung im wesentlichen bestätigen würde: wenn dem aber so war, wenn ihr Liebes- und Lebensglück einer erbärmlichen, plumpen Intrigue Herrn Reischachs zum Opfer gefallen war, dann war allerdings ihres Bleibens in seinem Hause nicht länger, ja sie beschloß sogar, unter Zurücklassung eines lakonischen, schriftlichen Abschieds dieses Haus zu verlassen und fürs erste ein Asyl bei einem Schullehrer in einem kleinen Dörfchen am Fuße des Riesengebirges zu suchen, dessen Frau eine große Liebe und Anhänglichkeit für sie hegte und von der sie — das war sicher — auch ohne vorherige Anmeldung mit offenen Armen aufgenommen ward. Sie ging sofort, entschieden aber ohne Hast, daran, sich auf die Abreise vorzubereiten; sie konnte eine Strecke weit denselben Zug benutzen, der Wolfgang in die Ferne führen sollte, und dieser Gedanke hatte einen wehmütigen Reiz für sie. Es war nur das Nötigste, was sie in einen Koffer packte, den sie durch Annas Vermittlung unbemerkt im voraus nach der Bahn bringen ließ; mit Geldmitteln war sie für längere Zeit versehen, da sie die Gewohnheit hatte, sich bei Beginn jedes Vierteljahres vom Kommerzienrat eine bestimmte Summe auszahlen zu lassen. Der Boden brannte ihr unter den Füßen; ihre Augen schwammen in Thränen, aber ihre Lippen preßten sich fest aufeinander und sie empfand es als eine unnennbare Wohlthat, daß sie in ihrem Zimmer bleiben konnte und nicht hinunter zu gehen brauchte. Der Anblick des Kommerzienrats wäre ihr unerträglich gewesen und sie würde Mühe gehabt haben, ihm gegenüber ruhig und gelassen zu bleiben. Sie ließ den Frühkaffee, den ihr Dorette heraufbrachte, unberührt; es war ihr, als könne sie in diesem Hause nichts wieder über die Lippen bringen, als müsse hier alles einen faulen, dumpfigen, widrigen Geschmack haben. Und konnte man überhaupt an Essen und Trinken denken, wenn man einen Brief, wie den Wolfgangs, wenn man

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_216.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)