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müssen, den Brief nicht früher abzugeben, keine Minute früher, und ich habe es ernst gemeint und war stolz darauf, daß er sich auf mich verließ. Aber als ich dann allein war, da kamen mir so allerlei Gedanken und ließen mich nicht wieder los und ängstigten und quälten mich und zuletzt konnte ich nicht anders ich mußte Ihnen den Brief eher geben. Er brannte mir wie Feuer in den Händen, so oft ich ihn aus meiner Kommode nahm und die Adresse betrachtete — in meinem Herzen und in meinem Kopfe ist noch nie eine solche Verwirrung gewesen, wie in diesen paar Tagen. Ich kam nicht über den Gedanken weg, daß er Sie lieben müsse, recht ernsthaft und ehrlich lieben, und das weiß doch auch ich, daß zwischen zwei Menschen, die sich lieben und nicht zusammenkommen können, so leicht ein Mißverständnis entsteht, das gar keinen ordentlichen, vernünftigen Grund hat und doch immer größer und größer wird, bis sie schließlich denken, sie können sich gar nie wieder versöhnen. Und dann machen sie schließlich einen recht thörichten Streich und der eine läuft fort in die weite Welt oder heiratet eine andere, wenn es ihm auch das Herz zerbrechen will — und es ist ja nicht immer eine kleine Anna, die mit ihrem einfachen Verstand klüger ist, als der grundgescheidte, gelehrte Herr, der anderen helfen kann, sich selber aber nicht! Und ist das nicht auch hübsch? Sehen Sie, jetzt möchte ich mir vor Uebermut die Hände reiben, wie ein ausgelassenes Schulmädchen.“

Martha hatte der Kleinen, die sich ganz in Eifer geredet hatte und deren Augen von innerster Befriedigung blitzten, nachdenklich und lächelnd zugehört und wiederholt mit dem Kopfe zugenickt. Nun sagte sie ernst:

„Sie mögen so unrecht nicht haben und Sie geben auch nur in mancher Hinsicht eine beherzigenswerte Lehre. Was in dem Briefe steht, giebt Ihnen recht, was Herrn Hammer betrifft, und Ihnen darf ich schon sagen, daß Sie erraten haben, was er dachte und fühlte. Aber nun sagen Sie mir — an mich mußten Sie doch auch denken; haben Sie mich denn auch erraten? Ich bin ja immer verschlossen genannt worden und nun sagen Sie mir am Ende, daß ich mein Geheimnis doch nicht sorgfältig genug gehütet habe.“

Anna lächelte sehr überlegen und fast ein wenig übermütig.

„Aber Fräulein, von Ihnen wußte ich ja, was ich von Herrn Hammer nur vermutete — nicht wahr. Sie sind nicht böse, wenn ich das sage?“ (Martha verneinte mit leichtem Kopfschütteln.) „Denken Sie noch an die dunkle Rose aus Herrn Hammers Garten, die Sie sich von dem kleinen Mädchen geben ließen? Ich habe es wohl gemerkt, daß Sie sie zu Hause in ein Buch legten und dann habe ich Sie einmal in Pyrmont ohne Absicht dabei überrascht, als Sie die Rose aus dem Buche nahmen und sie küßten, und nun wußte ich gleich Bescheid. Es freute mich so sehr, daß Sie Herrn Hammer lieb hatten, denn eine bessere Frau konnte er doch auf der ganzen Welt nicht finden, und darum habe ich Ihnen auch, als man so viele Worte über den Schiffer machte, der ein Kind aus dem Rhein zog, recht absichtlich alles erzählt, was ich von dem Krawall in der Fabrik

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_214.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)