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zwischen ihre Blumentöpfe gekommen sei. Anna war zuletzt bei ihr gewesen — dazu kam des jungen Mädchens befangenes und unsicheres Wesen, das ihr wieder einfiel — und war es nicht sehr denkbar, daß er gerade sie zur Ueberbringerin sich ausersehen hatte, sie früher als jede andere Mittelsperson? Innere Unruhe, erwartungsvolle Spannung und ein letzter matter Schimmer von Hoffnung, von der Kleinen doch vielleicht etwas über sein Reiseziel zu erfahren, trieben sie im Zimmer hin und her und die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten. Endlich wurde es rege im Hause; sie konnte Dorette klingeln und sie ersuchen, Anna so bald als möglich zu ihr zu schicken.

Die Kleine schrak zusammen, als ihr dieser Wunsch hinterbracht ward ; eilfertig und mit brennenden Wangen flog sie die Stufen hinauf; zagend öffnete sie die Thür und ein einziger forschender Blick in Marthas Gesicht reichte hin, sie mit der bittersten Reue über die Eigenmächtigkeit zu erfüllen, mit der sie augenscheinlich großes Unheil angerichtet hatte. Die Thränen schossen ihr in die Augen, als Martha hastig und erregt fragte:

„Haben Sie mir gestern Abend einen Brief aufs Fensterbrett gelegt?“ und mit gesenktem Blick und stockender, kaum hörbarer Stimme bejahte sie die Frage und sagte fast demütig und in bittendem Tone:

„Ach, verzeihen Sie mir, Fräulein Hoyer, ich habe es so gut gemeint und es ist mir so sauer geworden —“

„Von wem haben Sie ihn bekommen?“ forschte Martha weiter, ohne die Worte zu beachten.

„Von Herrn Hammer. Er ließ mich am Mittwoch zu sich kommen, sagte mir, daß er fort müsse und bat mich, Ihnen den Brief zuzustellen, nachdem er abgereist sei.“

„Seit Mittwoch! Zwei volle Tage schon! Ach, Anna, warum mußten Sie so gewissenhaft sein! Warum haben Sie nur den Brief nicht einen Tag früher gebracht! Sie hätten mir und wohl auch ihm einen großen Dienst erwiesen; er müßte Ihnen verzeihen und ich würde selber für Sie bitten. Nun ist er fort und es ist zu spät.“

Die Kleine hatte bei den ersten Worten in frohem Schreck aufgehorcht und der Wechsel zwischen Verzweiflung und Reue und Glück und Triumph war ein so jäher und überwältigender, daß sie sich vor glückseligem Uebermut kaum zu fassen wußte und lachend und weinend herausstieß:

„Aber Fräulein, so ist es ja gar nicht, er ist ja noch gar nicht fort — er reist ja erst heute Nacht — ich habe Ihnen den Brief ja früher gegeben, als ich sollte und durfte, weil ich mir dachte, es könnte so besser sein — für ihn und für Sie! So habe ich es also doch gut gemacht und Ihnen nicht wehe gethan, und er wird mir zu guterletzt noch danken müssen?“

Martha suchte mit der einen Hand eine Stütze an dem Spiegeltischchen und legte die andere vor die Augen — die Wandlung war ja für sie noch in ganz anderem Sinne überwältigend wie für die kleine Anna, der die hellen Freudenthränen über die Wangen stürzten, dann aber kam es wie ein Jauchzen über ihre Lippen, wie ein Jubelruf, und sie legte ihren Arm um den Hals Annas und küßte sie auf die Stirn.

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_212.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)