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kleine Buch weglegen, um es nicht ebenfalls zu verderben, wie den Brief. Aber sie begriff auch hier nur, das eine: ein schwarzer Schatten hatte von Anbeginn zwischen ihnen gestanden und mit den Worten:

Meine Lippen schmachten nach einem Kuß —
Ob Wind und Meer mir die Seele heilt?

brach das Buch ab und ließ das Rätsel ungelöst. Es flirrte und dunkelte vor ihren Augen; ihre Gedanken verwirrten sich und ihr Herz pochte, als wolle es zerspringen. Da kam der scharfe, grelle Pfiff der Lokomotive durch die Stille und Klarheit der Winternacht zu ihr; sie zuckte zusammen und sprang auf — vielleicht trug ihn dieser Zug in die öde, fremde Ferne, aus der nie wieder ein Wort von ihm zu ihr kam; vielleicht konnte sie ihn noch ereilen, ihm noch sagen, daß sie nichts, nichts gethan, was sie seiner unwürdig mache; ihn noch bitten, ihr dieses bange, herzbrechende Wirrsal zu lichten, ihr zu erklären, was in aller Welt er mit seinen grausamen Worten meinen könne; war es denn nicht Aberwitz, daß sie —- durch einen Dritten ihm Bedingungen, solche Bedingungen gestellt haben sollte? Aber, ach Gott! er war ja schon fort, es war zu spät —- und ihr hatte man nichts gesagt!

Sie war, ohne es zu wissen, vor den Spiegel getreten. — War das totblasse Gesicht, das sie aus dem Glase mit seltsam leuchtenden Augen ansah, das ihre? Sie löste das Haar und ließ es fessellos über das weiße Nachtgewand herabfallen und flüsterte, ohne es zu wissen: „Und Dich hat Wolfgang geliebt? Das ist ein so großes Wunder, daß es in Trauer und Thränen enden muß!" Und dann kehrte sie sich hastig um und kniete vor dem geflochtenen Lehnstuhl nieder und bedeckte den Brief und das kleine Buch mit Küssen und preßte ihre Lippen auf ihre Hand, als wäre es die des Geliebten, und bat mit brechender Stimme: „Vergieb mir alles Weh, das ich Dir zugefügt habe, das aus der Liebe zu mir Dir erwachsen ist; ich werde es ja nimmer wieder gut machen können, wenn ich auch mit einem Lächeln den letzten Tropfen Herzblut für Dich hingeben könnte!"

Dann barg sie Brief und Buch auf ihrem zuckenden Herzen und warf sich auf ihr Lager; sie verschlang die Finger ihrer Hände vor den Augen und preßte die Zähne in die Unterlippe und schloß unter den Händen die Augen, und dann lag sie wieder mit schweratmender Brust und leicht geöffnetem Munde und starrte in die flackernde Flamme der Kerze auf dem Tisch und wußte und fühlte nur noch eins: daß es eine große Wohlthat für sie wäre, sterben zu können. Aber wenn dann ihre Hand zufällig die Briefblätter berührte, daß sie leise knisterten, flüsterte sie träumerisch: „Und er hat mich doch geliebt, und sollte ich die ganze Welt auswandern, irgendwo muß ich ihn doch finden und er muß mir sagen, daß ich schuldlos bin!"

Wenn alles in uns flutet und stürmt, haben wir eine verhängnisvolle Neigung, das Nächstliegende zu übersehen; Wolfgangs Brief hatte Martha in eine so fieberhafte Aufregung versetzt, daß sie erst gegen Morgen sich die Frage vorlegte, wie dieser Brief wohl auf ihr Fensterbrett und

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_211.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)