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Scheidenden beschäftigt. Der junge Tag, der letzte, den Wolfgang in M. verleben sollte, war bereits angebrochen, als er todmüde ins Städtchen zurückkam; dürfen wir uns darüber wundern, daß ihn[WS 1] seine Schritte schließlich doch noch, und zwar ganz unwillkürlich, in den Hohlweg geführt hatten, wo das kleine Idyll sich anspann, das nun so traurig endete? Gerade in dem Moment, in dem er diesen, Hohlweg durchschritt, trat aus zerrissenem, dunklem Gewölk die Mondesscheibe und ihr blasses Licht ließ das Brombeergestrüpp im Schnee erkennen; — ob sie, die seine Hoffnungen so bitter enttäuscht hatte, wohl im Sommer wieder diesen Weg ging, ob ihr Blick an den weißen Blüten haftete, die dann zwischen den gezackten Blättern schimmerten; ob sie seiner gedachte und traurig die schmale, weiße Hand vor die Augen legte?

Es war der Schlummer der äußersten Erschöpfung, der sich in dieser Nacht bleischwer auf Wolfgangs Lider legte; er hatte seine Schuldigkeit gethan, der Bruch war vollzogen, und was nun noch kam, war nur ein kleines Nachspiel, das ihn innerlich kaum noch berührte.

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Zu derselben Zeit, da Wolfgang die Tribüne bestieg, hatte Martha die kleine Anna, die ihr merkwürdig aufgeregt und zerstreut hatte vorkommen wollen, entlassen; das junge Mädchen machte sich, als habe sie noch etwas auf dem Herzen, auch nach dieser freundlichen Weisung noch im Zimmer zu schaffen, als aber Martha fragte: „Wollen Sie noch etwas, Anna?“ bekam sie ein hastiges und befangen klingendes: „Nein, Fräulein, Nein!“ zur Antwort und sah sich im, nächsten Augenblick allein.

Sie hütete noch immer das Zimmer; obgleich ihr Unwohlsein fast gänzlich gehoben war, bedurfte sie der Einsamkeit und Stille, und der Gedanke an Emmys Geplauder und des Kommerzienrats banales Geschwätz war ihr unerträglich. Immer und immer wieder fragte sie sich, warum ihr Wolfgang nach der Begegnung im Schneesturm kein Lebenszeichen gegeben habe, und dieses quälende Rätsel, das wie Reif auf die Blüten ihres Liebesglücks gefallen war, verfolgte sie bis in Schlummer und Traum.

Sie ging jetzt langsam, mit unsteten, unhörbaren Schritten im Zimmer auf und ab, nachdem sie das Buch, nachdem sie gegriffen, um ihren traurigen Gedanken zu entfliehen, wieder weggelegt hatte; sie hatte sehr bald die Entdeckung zu machen gehabt, daß sie nur mechanisch die Zeilen überflogen und die Seiten umgewendet hatte, und daß sie kein Wort von dem wußte, was ihre Augen gelesen. Als sie dann ihr Taschentuch von dem Spiegeltischchen wegnahm, fiel ihr Blick auf das Myrthenbäumchen im Fenster, das sie sich aus einem kleinen Reis gezogen und das sie ebenso sehr liebte, wie die Passiflora daneben, die jetzt freilich fast blätterlos war. Was war aber das? Stak nicht zwischen den beiden sich fast berührenden Aeschen ein Brief? Sie nahm ihn zögernd und von einer jähen Ahnung überfallen, heraus, und alles Blut schoß ihr zum Herzen, als sie gewahrte, daß der Brief verschlossen und daß er an sie adressiert war; und wem konnte diese feste, zierliche Handschrift gehören,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ihm
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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_209.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)